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Research

Un-Mögliche Solidarität: Zivile Seenotrettung zwischen radikaler Demokratie und kolonialen Kontinuitäten

Author: Mareike Gebhardt orcid logo (Universität Münster)

  • Un-Mögliche Solidarität: Zivile Seenotrettung zwischen radikaler Demokratie und kolonialen Kontinuitäten

    Research

    Un-Mögliche Solidarität: Zivile Seenotrettung zwischen radikaler Demokratie und kolonialen Kontinuitäten

    Author:

Abstract

Drawing from Jacques Derrida's notion of the impossible, the paper discusses different understandings of solidarity. It questions a notion of solidarity where it is deemed possible only under conditions of similarity. To show how the similarity assumption hardens into an authoritarian, racist hermeticism of solidarity, I scrutinize the far-right's invocation of solidarity in reference to migration politics. In contrast to hermetic solidarity, the paper introduces solidarity as a praxis in difference. It conjures an understanding of solidarity as both possible and impossible among radically different peoples and groups. I elaborate this argument in conversation with different strands of critical theory—deconstruction, radical democratic theory, queer_ and Black feminist theory—to unearth solidarity's racist and androcentric residues. I argue for an intersectional reading of solidarity, through which the different theorizations are channeled into a critique of solidarity that problematizes the inequalities of solidarizability. Lastly, to connect theory with praxis, I refer to examples from civil Search and Rescue in the Mediterranean, where solidarity with the Other is urgently needed and often violently neglected.

Keywords: Mediterranen border regime, civil Search and Rescue, solidarity, deconstruction, radical democracy, Black feminism, queer_feminism

How to Cite: Gebhardt, Mareike. "Un-Mögliche Solidarität: Zivile Seenotrettung zwischen radikaler Demokratie und kolonialen Kontinuitäten." Genealogy+Critique 9, no. 1 (2023): 1–26. DOI: https://doi.org/10.16995/gc.10500

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Published on
2023-12-28

Peer Reviewed

1. Einleitung: In Solidarität trauern – oder: Die Grenzen der Solidarisierbarkeit

Am 9. Februar 2021 fragt die Webseite des Alarm Phone (2021) "Wo sind sie?" und bekundet "Solidarität mit den Familien der 91" am 9. Februar 2020 "auf See verschwunden Menschen" – genau ein Jahr nach deren Vermisstmeldung. Auf der Seite ist zu lesen, was am 9. Februar 2020 passiert war:

"um 4.09 Uhr morgens […] wurde das Alarm Phone von einer Gruppe von 91 Menschen angerufen, die sich auf einem im Meer treibenden schwarzen Schlauchboot vor Garabulli, Libyen, in Seenot befanden. Sie waren in Panik, aber es gelang ihnen, ihre GPS-Koordinaten klar zu kommunizieren, die das Alarm Phone sofort an die italienischen und maltesischen Behörden sowie an die sogenannte libysche 'Küstenwache' weiterleitete. Um 5.35 Uhr riefen die Menschen das Alarm Phone zum letzten Mal an." (Alarm Phone 2021)

Alarm Phone verlor daraufhin den Kontakt.1 Weder Frontex noch die libyschen Kontrollboote nahmen weitere Such- oder Rettungsoperationen auf. Der Bericht ist Teil der sogenannten CommemorAction, in denen auf die anonymen Toten und Vermissten des Mittelmeers aufmerksam gemacht wird.2 Die Vermissten des 9. Februar 2020, so Alarm Phone weiter, wurden nicht einmal in offiziellen Statistiken erfasst, wenngleich Alarm Phone zugleich ablehnt, "das Leben und den Tod von People of Color auf Zahlen und Statistiken zu reduzieren. Diese rassistische Entmenschlichung erklärt nicht den Verlust von Abdul, von Aboubacar, von Adnan, von Abdel. Sie erklärt nicht den Schmerz, der ihren Müttern, ihren Schwestern, ihren Freund*innen zugefügt wurde." (Alarm Phone 2021) Zusammen mit Angehörigen und migrantischen Netzwerken rekonstruieren Alarm Phone und eine Selbsthilfegruppe der Familien Namen und Fotos der Vermissten, die unter #saytheirnames veröffentlicht wurden.3

Neben der Meldung auf der Seite von Alarm Phone umfasste die CommermoAction auch eine Gedenkveranstaltung in Al Fasher/Darfur und einen Protest gegen das "unsichtbare Verschwindenlassen" von Schwarzen Personen und People of Color (PoC). Darüber hinaus gab es in verschiedenen Städten Europas und Subsahara-Afrikas Veranstaltungen, die eine transnationale Solidarität praktizierten:

"In Solidarität mit ihnen und in Solidarität mit den Freund*innen und Familien aller Menschen, die durch das gewaltsame europäische Grenzregime vermisst oder getötet wurden, versammeln wir uns an diesem Tag in verschiedenen Städten, um Antworten zu fordern. Stoppt das Sterben auf See, jetzt!" (Alarm Phone 2021)

Diese Solidaritätsbekundungen beschreibe ich in Anlehnung an Jacques Derrida mit dem Begriff des Un-Möglichen. Derrida (2019a) verdeutlicht mit dem Un-Möglichen die Spektralität von Gesellschaft: Das Unmögliche ist wie das Unheimliche etwas, das im Gesellschaftlichen haust und es immer wieder heimsucht, wie z.B. Vergangenes, das die Gegenwart prägt. Sozialwissenschaftlich gewendet kann das Un-Mögliche jedoch auch als etwas verstanden werden, das in den normalisierten Vorstellungen einer Gesellschaft als unmöglich gilt (weil tabuisiert, nicht vorstellbar o.ä.), jedoch in der sozialen Realität immer wieder – gespenstisch – Gestalt annimmt. Mit Derridas Hantologie gehe ich davon aus, dass das Un-Mögliche in den Möglichkeitsstrukturen herumgeistert und die Normalität immer wieder heimsucht – und sie damit auch in Frage stellt. Un-Mögliche Solidarität beschreibt also eine Solidarität, die in den normalisierten Settings einer Gesellschaft, z.B. aufgrund der Geschichte, als unwahrscheinlich oder sogar unangemessen wahrgenommen wird – und damit auch nicht sein darf; und trotzdem ist. Im Falle der zivilen Seenotrettung (ZSNR) handelt es sich um eine Solidarität zwischen den Nachfahren der Kolonisierten und Kolonisierenden, zwischen den weißen Nutznießer*innen des neokolonialen Grenzregimes und den rassifizierten Anderen, den Lebenden und den Toten.

Mit dem Begriff des Un-Möglichen schließe ich an eine breite Literatur zu Solidarität an, die Solidarität unter Bedingungen von Alterität und Differenz denkt (u.a. Karakayalı 2014; Hark et al. 2015; Bargetz et al. 2019). Diese Ansätze, die meist in der Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Denkbewegungen entstehen, knüpfen Solidarität nicht an brüderliche oder klassenbasierte Ähnlichkeit (u.a. Bourgeois 2020 [1896], Adorno 1951, 82f.). Vielmehr denken Sie "Solidarität als Gemeinsames in Differenz" (Bargetz et al. 2019, 14). Dabei gehe ich mit Lea Susemichel und Jens Kastner (2021a; 2021b) sowie Sabine Hark und Paula-Irene Villa (2018) von der These aus, dass Solidarität als eine radikaldemokratische Praxis dort aufscheint, wo Differenz und Alterität soziale Beziehungen strukturieren. Wenn Solidarität nur unter Ähnlichen bestünde, so die Annahme weiter, bediente sie ein Phantasma der Einheit und des Autochthonen, das zu dekonstruieren ist, um die Un-Möglichkeiten des Solidarischen (neu) auszuloten – und es damit von seinen essentialisierenden Residuen des Brüderlichen und Ethnischen zu lösen. Diese differenz- und alteritätstheoretischen Ansätze fordern auch normalisierte Vorstellung von solidarisierbaren Personengruppen heraus. Anlässlich des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zeigte der Soziologe Steffen Mau (2022), wie diese normalisierte Solidarität operiert. Er erklärte damit die enormen Solidaritätsbekundungen europäischer Regierungen und Zivilgesellschaften gegenüber weißen ukrainischen Geflüchteten. Im Umkehrschluss liegt dieser Vorstellung von Solidarität die Prämisse eines Geteilten zugrunde, die auch über rassifizierte, rassistische Logik operiert, die sich in den Mobilitätsregimen an den EU-Außengrenzen zeigt: Weiße Personen durchqueren mit Unterstützung 'Europas' Grenzräume, während Schwarze Personen und PoC diese mit größeren Schwierigkeiten manövrieren – sofern sie überhaupt lebend durch sie hindurch kommen.

Mit Rekurs auf verschiedene Ansätze, die Solidarität "mit den Anderen" (Karakayalı 2014, 122f.) theoretisieren, zeige ich anhand ausgewählter Beispiele aus der Praxis und dem Diskurs der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer auf, wie sich ein theoretisches Nachdenken über Solidarität aus bestimmten Praktiken speist – und, vice versa, wie eine Theoretisierung des Solidarischen als Differenz den Diskurs und die Praktiken der zivilen Seenotrettung verstehbarer machen kann. Dabei verweise ich selektiv auf Praktiken und Diskursfragmente der ZSNR, die die Un-Möglichkeit von Solidarität unter Bedingungen von Alterität – wie etwa zwischen Lebenden und Toten – aufzeigen.4 Da das Denken der Solidarität in Differenz insbesondere in dekonstruktiven, queer_feministischen, postkolonialen und Schwarzen Theorien ausgearbeitet wurde, sind Autor*innen dieser verschiedenen Ansätze meine Gesprächspartner*innen in diesem Beitrag. Mit ihnen und dem Begriff des Un-Möglichen nähere ich mich Fragen der Solidarisierbarkeit des Anderen an. Mit Solidarisierbarkeit beziehe ich mich auf die trauerpolitischen Arbeiten Judith Butlers (2004; 2009). Im Begriff der "Betrauerbarkeit" erfasst Butler (2009, xix; 2004, 34), wie rassifizierte Personengruppen weniger oder gar nicht öffentlich betrauert werden. Analog zu Butlers Gedanken zeige ich anhand des europäischen Diskurses um die zivile Seenotrettung auf, inwieweit rassifizierte Personengruppen als weniger solidarisierbar erachtet werden. Solidarisierbarkeit ist dabei auch ein Echo der kolonial-rassistischen Regime Europas, in denen Schwarze Menschen und PoC durch das "Raster" (Butler 2009) des Menschlichen fielen und noch immer fallen.

Der Beitrag sucht damit auch nach einem Vokabular, das ein anderes Sprechen über Solidarität ermöglicht und darüber hinaus Phänomene als solidarische Praxis ausweist, die in normalisierten Settings als Orte einer unmöglichen (!) Solidarität markiert werden. Als eine solche Praxis soll die ZSNR gelten. Denn durch sie treffen Menschen aufeinander, die oftmals wenig eint – außer dem drängenden Bedürfnis, das Sterben im Mittelmeer zu stoppen bzw. nicht auf der Fahrt über das Mittelmeer zu sterben. Dabei gehe ich wie folgt vor: Im Anschluss an diese Einleitung stelle ich unter dem Begriff der hermetischen Solidarität ein Gegenmodell zu einer Solidarität in Differenz vor. Ich gehe näher auf extrem rechte Semantiken der Solidarität in Bezug auf Diskussionen zur Migration nach Europa ein, die Solidarität als Praxis der ethnisierten Schließung versteht (2). Dieser rassistischen Solidarität stelle ich verschiedene Modelle einer Solidarität in Differenz gegenüber. Dies tue ich in vier Schritten: In Rekurs auf radikale Demokratietheorien diskutierte ich Solidarität als eine demokratisierende Praxis (3), die sich in einer Pluralität interventionistisch-dissensueller Eruptionen der polizeilichen Ordnung materialisiert (4). Von hier aus problematisiere ich mittels queer_ und Schwarzer feministischer Ansätze die radikaldemokratietheoretische Perspektive, in dem ich auf das immer wiederkehrende Scheitern solidarischer Praxen verweise, wenn in ihrem Mittelpunkt ein unreflektierter Begriff des Menschlichen steht (5). Daher weise ich, in einem nächsten Schritt, Solidarität als eine negative Praxis aus (6), die in einem abschließenden Fazit die Grenzen der Solidarisierbarkeit hervorhebt (7).

All diese Perspektivierungen skizzieren, wie sich Solidarität als eine radikaldemokratische Praxis ausweisen ließe: eine solidarische Praxis, die vom Anderen ausgeht – statt sich ihm paternalistisch zuzuwenden. Sie teilen eine dekonstruktive Spurensuche, die die essentialistischen Residuen der Solidarität freilegt. Trotz dieser zentralen Gemeinsamkeit reagieren die Perspektiven auf die jeweiligen Leerstellen der anderen: Queer_feministische Kritiken antworten auf die Vernachlässigung von Geschlecht und Sexualität in radikalen Demokratietheorien (RDT), deren politische Subjekte oftmals körper- und geschlechtslos bleiben. Die Dominanz weißen Denkens innerhalb queer_feministischer Theorien wird wiederum durch Schwarze Feminismen und postkolonialen Kritiken aufzeigt. Durch die Auswahl dieser unterschiedlichen, wenngleich sich ergänzenden Theoretisierungen von Solidarität soll eine intersektionale Lesart des Solidarischen weiter ausgearbeitet werden, mit der ich an die kritischen Diskussionen einer Solidarität in Differenz anschließe.

2. Solidarität als Hermetik: Eine Kritik

Blickt man in den Diskurs der ZSNR, der stark mit generellen Debatten um Migration verschränkt ist, stellt man fest, dass extrem rechte und rechtskonservative Diskurspositionen eine Semantik der Solidarität verwenden, um ihre rassistische Abschottungspolitik zu plausibilisieren. Dies zeigt sich beispielhaft in der "Aktion Solidarität" der Identitären Bewegung (IB) (Verfassungsschutz Baden-Württemberg 2022). Die IB tritt mit neuem Logo – zwei Hände, die 'solidarisch' ineinandergreifen – auf und verzichtet auf den bekannten schwarz-gelben Farbcode. Unter den Schlagworten "Autarkie, Souveränität und Remigration" fordert sie u.a. "Unsere Interessen zuerst!" und "Grenzen Dicht [sic] machen!" Die IB verbindet in ihren Solidaritätsanrufungen phantasmagorische Imaginationen einer nationalistischen Souveränität und maskulinistischen Autonomie mit rassistischen Vorstellungen eines weißen Europa, die, wie auch bei anderen extrem Rechten, unter dem Euphemismus des "Ethnopluralismus" camoufliert werden (Eckert 2010; Bundeszentrale für Politische Bildung 2016).

In der rassistischen 'Solidarität' der extremen Rechten wird der Unterschied zwischen 'Völkern' und 'Ethnien' markiert, die jeweils über einen vermeintlich eigenen Raum verfügen, in dem sie unter 'optimalen' Bedingungen ihr volles Potential entfalten könnten. Zu beobachten ist, dass sie sich den Begriff der 'Differenz' für eine vermeintlich solidarische Praxis aneignen. Während die Unterschiede zwischen den imaginierten Gruppen betont werden, wird jede Gruppe als in sich geschlossen, homogen und einheitlich verstanden. Akteure der extremen Rechten, wie die Identitären, möchten die 'Demokratie' vor zu viel Differenz schützen und jede Gruppe an ihren angestammten Platz zurückführen; daher auch die Betonung der "Remigration" – und der Versuch, eine eigene 'Seenotrettung'-Mission zu lancieren (Cusumano 2022). Aufgrund ihrer multidimensionalen Vorstellungen von Geschlossenheit – staatlich, gesellschaftlich, kulturell, politisch und rassisch – beschreibe ich die Solidaritätsanrufungen der extremen Rechten als hermetische Solidarität. Hermetische Solidarität geht so weit, Remigration selbst steuern zu wollen. Im Rahmen der Aktion Defend Europe sollte der angebliche "Menschenhandel" durch Organisationen der ZSNR gestoppt und die Küstenwachen Italiens, Maltas und Libyens 'unterstützt' werden: "Europa zu retten und die illegale Einwanderung zu stoppen" war das proklamierte Ziel der Identitären. Sie charterten 2017 das Schiff C-Star mit Hilfe eines Crowd Fundings, um das Mittelmeer zu polizieren.5

Remigration soll die Demokratie also 'bereinigen' und die Anderen an ihren 'angestammten Platz' deportieren. Kehrt Alterität, so die Vorstellung einer 'völkisch'-essentialistischen Solidarität, an 'ihren Platz' zurück, ist die Gefahr gebannt. Dort darf das Andere bleiben. In dieser Vorstellung von 'Differenz' wird Solidarität von den Ähnlichkeitsannahmen heimgesucht: Solidarität ist nur an Orten der Ähnlichkeit möglich, an denen das Eigene zu Tage tritt. Hier werden die Grenzen der Solidarisierbarkeit hermetisch gezogen. Denn der binäre Code der rassistischen Solidarität scheidet nicht nur das Eigene vom Fremden. Vielmehr trägt in ihm auch die Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Anderen. Eine der zentralen Kategorien dieser Unterscheidung bildet das Weißsein, das mit Menschlichkeit gleichgesetzt und mit euro- und androzentrischen Vorstellungen verbunden wird, wie z.B. die Soziologin Akwugo Emejulu (2022) zeigt. Die Hermetik einer ethno-pluralistischen 'Solidarität' verengt die Grenzen der Solidarisierbarkeit auf eine weiß definierte Menschlichkeit. In ihren nationalistischen und rassistischen Phantasmen markiert hermetische Solidarität das radikal Andere als unsolidarisierbar.

Das autoritär-rassistische Denken des Ethno-Pluralismus bedient sich zur Stärkung dieser hermetischen Solidarität bestimmter Bedrohungsszenarien, die klare Feindbilder markieren: Die Demokratie sei durch 'Fremde' – vertreten durch migrantisierte und rassifizierte Gruppierungen – bedroht, die die Stabilität und Homogenität des Eigenen fundamental erschüttern. Doch auch im Eigenen schlummern Gefahren: Diejenigen, die das Eigene als instabil, inkohärent, different und in sich verschieden markieren, leisten der Verunreinigung durch das Andere Vorschub, so z.B. queer-feministische Aktivist*innen oder Seenotretter*innen. Das Anliegen, alterisierte Personen(-gruppen) auf ihrer Fahrt über das Mittelmeer nicht sterben zu lassen, wird daher als Verrat am Eigenen empfunden und als Verstoß gegen die hermetisch-völkische Solidarität delegitimiert. Nicht nur wird ZSNR kriminalisiert, sondern ihre Akteure als Verräter*innen des Eigenen dämonisiert.

Betrachtet man ethno-nationalistische Parteien und rassistische Bewegungen, formen diese Solidarisierung autoritär um. Verschiedene Differenzkategorien werden als inkommensurabel markiert und Solidarität zwischen ihnen als unmöglich dargestellt, so z.B. zwischen sexuellen Minderheiten und muslimischen Milieus. Doch reklamieren autoritäre Positionen aus einer radikaldemokratischen Perspektive kein demokratisierendes Recht auf Streit. Denn ihre Vorstellung von Streit und Dissens ist endlich: Streit kommt dann zu seinem Ende, wenn wir alle dort verhaftet bleiben, wo wir traditionell, 'ursprünglich', 'natürlich' hingehören, so das Echo des Ethno-Pluralismus. Weder erweitert noch vertieft der autoritär-rassistische Ethno-Pluralismus die Gleichheits-, Freiheits- und Solidaritätsversprechen der Demokratie. Vielmehr dämmt er sie ein, hält sie im hermetischen Container des Selbst zusammen, verschließt Freiheit, Gleichheit und Solidarität vor den Anderen und erklärt 'Demokratie' zu einem Privileg des Eigenen.

Im Gegensatz zur maskulinistisch-rassistischen Klage, in der der Verlust des Eigenen betrauert wird, wird Trauer als eine Praxis un-möglicher Solidarität erfahrbar, wenn wir uns Traueraktionen wie CommemorActions zuwenden. Trauer ist hier nicht destruktiv und auf das Eigene beschränkt. Vielmehr wird in den politisierten Trauerbekundungen um die Toten und Vermissten des mediterranen Grenzregimes die radikale Relationalität zum Anderen hin erfahren. Trauern spielt aus einer solidaritäts-, differenz- und alteritätstheoretischen Perspektive dann eine große Rolle, wenn wir das Sterbenlassen im Mittelmeer und die Versuche, eine Politik des Ertrinkenlassens anzuprangern (Gebhardt 2020; Ehrmann 2021) als unterschiedliche Praktiken einer Solidarität mit dem Anderen verstehen. Meine Überlegungen orientieren sich an Judith Butlers (2004, 2009) und Athena Athanasious (2017) Arbeiten zu Politiken des Trauerns, in denen sich Solidarität auch als eine Frage nach einem demokratisierenden Umgang mit dem Anderen darstellt. Hier muss kritisch gefragt werden, wer Solidarität gibt: Wer empfängt sie? In welchem – sozialen, politischen und historischen – Verhältnis stehen Gebende und Empfangende?

3. Solidarität als demokratisierende Praxis: Demokratie und Dekonstruktion

Ich lese Derridas dekonstruktive Arbeiten zum Un-Möglichen als einen Beitrag zur RDT (Flügel-Martinsen 2020). Denn er bindet Dekonstruktion eng an Demokratie: "[K]eine Dekonstruktion ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Dekonstruktion" (Derrida 2000, 156). Dekonstruktion ist insofern Demokratie, als sie die eigenen Ansprüche der Demokratie – ihre Fallstricke, Asymmetrien und Privilegierungen – hinterfragt und sie damit zwingt, stets demokratischer zu werden. Demokratie kann immer nur demokratischer werden, nicht demokratisch sein. Denn eine Demokratie, die mit sich selbst identisch, also identitär, ist, hört für Derrida auf, demokratischer zu werden. Demokratie ist daher nie identitär, sondern stets "im Kommen" (Derrida 2019b, 117). Und sie ist Dekonstruktion: eine stete Bewegung des Verschiebens, die eine totalisierende Identität verhindert. Diese stete Verschiebung spiegelt sich auch im Un-Möglichen wider. Denn es verweist zugleich auf einen Möglichkeitsraum und auf dessen Verhinderung durch Strukturen der Herrschaft, wie z.B. Androzentrismus oder Rassismus. Dieser Möglichkeitsraum drückt sich im Begriff des Kommenden aus: Denn eine demokratischere Gesellschaft ist immer potentiell möglich, auch im Hier und Jetzt (sie ist also kein Ideal im Kantischen Sinne). Allerdings wird sie in ihrer Entfaltung durch herrschende Strukturen der Verunmöglichung von Demokratisierung gehemmt oder auch ganz verhindert. In seiner gemeinsamen Diskussion von Demokratie, Möglichkeitsbedingungen und Herrschaft formuliert Derrida eine radikale Demokratietheorie, die durch die Dekonstruktion der verunmöglichenden Strukturen um die Demokratisierung der (liberalen) Demokratie ringt.

Eine radikaldemokratietheoretische Perspektive (u.a. Mouffe 2005; Rancière 2002) betont, zunächst ganz allgemein gesprochen, zwei Aspekte: Erstens, Demokratie ist immer durch Ausschlüsse geprägt. Im Gegensatz zu liberalen Theorien, die auf die Integrationsfähigkeit der Demokratie verweisen – damit jedoch Einfallstore für Diskurse knapper Ressourcen und numerischer Begrenzung bieten –, rücken radikale Demokratietheorien diejenigen Exklusionen in den Vordergrund, die Demokratie produziert. Dieser Grundannahme liegt ein alteritätstheoretisches Argument zugrunde, das ich mit Derridas Ausführungen zum Verhältnis von Selbst und Anderem, von Innen und Außen, problematisieren möchte: So geht Chantal Mouffe (2005, 23) in ihrer agonalen Variante der radikalen Demokratie von der Notwendigkeit eines konstitutiven Außerhalb aus. In der dissensuellen Auseinandersetzung mit dem "gegnerischen" Anderen/Außen bilden sich solidarische Allianzen (Mouffe 2005, 29ff.). Wenngleich Mouffe betont, dass sich das (kollektive) Selbst unabhängig von nationalistischen, ethnischen oder auch staatlichen Einheiten bilden kann, so wiederholt ihre Theorie – insbesondere in den späteren Arbeiten ab den 200er Jahren – einen fast feinsäuberlich getrennten Dualismus von Innen und Außen bzw. von Selbst und Anderem.

Dieser dualistischen Codierung setzt Derrida ein komplexeres alteritätstheoretisches Modell entgegen. Derrida verbindet Demokratie, Dekonstruktion und Alterität: Der Andere ist nicht in einem (konstitutiven) Außen zu lokalisieren, sondern ist im Selbst zu verorten. Er sucht das Selbst immer schon heim, spukt in ihm. Die Betonung der Binnendifferenz gilt dann auch für Demokratie, die weder identitär noch rein ist. Sie ist vom Anderen immer schon 'kontaminiert' – genau dies unterscheidet die Demokratie von anderen Regierungsweisen und politischen Systemen. Demokratie ist nicht nur dort, wo sie den Anderen als "Gegner" im Kampf um Hegemonie anerkennt (Mouffe 2005). Sie erscheint vielmehr dort, wo das Andere immer schon im Selbst zugegen ist und diese Beziehung in einer dekonstruktiven Bewegung hervorgeholt wird: dort, wo die Spuren von Herrschaft und Macht aufgezeigt und zugleich kritisiert werden.

Demokratie ist also durch eine radikale, keine dualistische Relationalität zwischen dem Selbst und dem Anderen gekennzeichnet. In Rückgriff auf Derrida haben queer_feministische und postkoloniale Theorien (Spivak 1988, Butler 2004, Kelz 2015, Athanasiou 2017) gezeigt, wie durch ein Modell der radikalen Relationalität die androzentrischen Vorstellungen der Autonomie, der Souveränität und des (moralisch) Aufrechten, die in der Geschichte und den Imaginationsräumen der Demokratie und der Solidarität spuken, bloßgelegt werden: ihre Vorstellungen von Brüderlichkeit, aber auch ihr maskulinistisches Phantasma des Eigenen. Jedoch kann es in dieser dekonstruktiven Freilegung auch ein Moment der Befreiung geben: eine Sicht- und Sagbarmachung der Unterdrückung in ihrer Genese und Geschichtlichkeit. Im spannungsreichen Bezugsgewebe von Demokratie und Solidarität erscheint dann die Möglichkeit einer Praxis, die über das Selbst hinausweist: die Möglichkeit einer Solidarität jenseits eines autonomen, unabhängigen, souveränen (maskulinen) Ich. Wenn wir uns Solidarität jenseits von Autonomie und Souveränität als eine "Solidarität mit dem Anderen" (Karakayalı 2014, 111) vorstellen können, dann kann diese Solidarität schon im Heute als solche realisiert werden (Derrida 2019a, 50). Diese Solidarität im Kommen zeichnet eine Vision der demokratischeren Zukunft Europas, in der Solidarität auch an un-möglichen Orten erscheint.

Insofern zivile Seenotrettung, um auf mein Beispiel einzugehen, auf die Verstrickungen der europäischen Demokratie mit Rassismus, Kolonialismus (Ethno-)Sexismus und Kapitalismus aufmerksam macht, kann sie als eine Solidaritätspraxis im Kommen beschrieben werden: Sie findet nicht zu sich selbst, sondern legt ihre eigenen Diskriminierungsspuren bloß, während sie auf die Notwendigkeit verweist, Solidarität vom Anderen her zu denken. Sie praktiziert damit eine un-mögliche Solidarität, z.B. in Akten des Trauerns. Organisationen der ZSNR sind oftmals vor Ort die einzigen Zeug*innen der täglichen Tode im mediterranen Grenzregime. Sie betrauern sie in einem Akt politisierender Solidarität und radikalisieren damit die Vorstellung, über wen wir trauern können.6 Sie möchten "denen, die die europäischen Behörden an dem Tag auf See verschwinden ließen, einen Namen, ein Gesicht, ein Lächeln" (Alarm Phone 2021) geben. An diesen Un-Orten der Trauer zeigt sich eine un-mögliche Solidarität. Denn da ich die Toten nicht kenne, ist Trauer im eigentlichen Sinn nicht möglich. Solidarität beschränkt sich oftmals auf die Lebenden. Doch diese Unmöglichkeit wird von der realen Trauer um die anonymen Toten heimgesucht: Die Unmöglichkeit wird mit der Möglichkeit zu trauern konfrontiert (Derrida 2019a). Indem sie um diese unbekannten Toten trauern, indem Organisationen und Protestmärsche eine un-mögliche Trauer praktizieren und verkörpern, machen sie ein "transversal[es]" und "inklusiv[es]" (Schwenken und Schwiertz 2021, 167) Trauern in Solidarität möglich: Der Tod der Anderen kommt auf uns zu, sucht uns heim und versichert uns der Möglichkeit, um sie zu trauern. In diesem Ausgesetztsein zerbricht eine Vorstellung von Souveränität, die hermetische Solidarität immer aufrechterhält.

4. Solidarität als eruptive Praxis: Dissens und Intervention

Trotz der gerade problematisierten Wiederholung eines dualistischen Verhältnisses von Selbst und Anderem lohnt sich ein Blick in die radikale Demokratietheorie. Insofern Demokratie über demokratischen Streit radikalisiert wird, um totalisierende Perspektiven auf Demokratie zu entkräften, heißt dies, dass unterdrückte Positionen und marginalisierte Milieus immer die Möglichkeit haben müssen, um ihre Sichtbarkeit in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft selbst zu streiten (Rancière 2002). Gerade in der Reiteration dieses radikaldemokratietheoretischen Gedankens durch postkoloniale und queer_feministische Perspektiven wird ersichtlich, dass sich die Anderen selbst repräsentieren können müssen (Spivak 1988).

Hier ergibt sich ein komplexes Bild auf ZSNR, wenn vor allem (weiße) zivile Seenotretter*innen zu Wort kommen und für migrantische Gruppierungen sprechen. Wenn weiße Seenotretter*innen von einer privilegierten Position aus für die Anderen sprechen, besteht die Gefahr einer "unreflektierte[n] Solidarität" (Ehrmann 2021, 448): eine Solidarität, die die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse oder die Spezifik unterschiedlicher (Diskriminierungs-)Erfahrungen übersieht. Dadurch wird Solidarität nicht vom Anderen her gedacht, sondern für den Anderen – paternalistisch – praktiziert. Solche Solidaritätspraxen reproduzieren einen kolonialen Paternalismus, der Geflüchtete und Migrant*innen viktimisiert statt sie als politische Solidaritätsakteur*innen zu verstehen. Jedoch nutzen weiße Aktivist*innen ihre eigene Position zur Sichtbarmachung von Leid und Unrecht, wenn sie an die Solidarität einer weißen Mehrheitsgesellschaft mit Geflüchteten, Migrant*innen, Vermissten oder Toten of Color appellieren. Allerdings kann Solidarität an dieser Stelle zu einem bloßen Vehikel werden, wenn Seenotretter*innen, nicht zuletzt in ihrer Abhängigkeit von Spendengeldern, das Sterben auf dem Mittelmeer instrumentalisieren, um Gelder zu akquirieren. Im Gegensatz dazu stellt ZSNR auch eine wichtige politische Intervention dar, die auf das Ertrinkenlassen im Mittelmeer aufmerksam macht; und sowohl die Rettungsmissionen als auch die Organisationen benötigen selbstverständlich finanzielle Ressourcen, um genau dies tun zu können. Unmögliche (!) Solidarität – z.B. zwischen weißen Mehrheitsgesellschaften, minorisierten Positionen und Geflüchteten of Color – wird hier möglich, da sich affektive Bande zwischen Gruppen bilden, die im traditionellen Verständnis von Solidarität als unmöglich gelten. Doch genau das tun sie. Sie werden füreinander solidarisierbar: weiße Aktivist*innen und Migrant*innen of Color, weiße Mehrheitsgesellschaft, migrantische Gruppen und aus Seenot gerettete Personen (of Color), muslimische und christliche Milieus, feministische Bewegungen und humanitäre Anliegen, Lebende und Tote.

Über die gemeinsame Artikulation eines Dissenses – eines Neins zum Sterbenlassen –, nähern sich diese "postmigrantischen Allianzen" (Stjepandić und Karakayalı 2019) einer radikaldemokratischen Praxis einer un-möglichen Solidarität an. Dabei sind diese Allianzen auch in sich weder bruchlos noch widerspruchsfrei. Solidarität ist "schwierig" (Hark 2021, 71). Doch solidarische Allianzen teilen ein Nein. Sie ie sind vor allem Praxen, die zunächst gegen etwas agieren. Als "Kampfsolidarität" (Susemichel und Kastner 2021b, 23) sind sie radikaldemokratisch im Sinne eines steten Konfliktes, einer dissensuellen Austragung von Streit und einem herrschaftskritischen Ringen um Deutungsmacht. Solidarität ist eine Praxis des Widerstreits (Hark und Villa 2018, 26). Sie bildet, im Anschluss an Derridas Verknüpfung von Demokratie und Dekonstruktion, eine "Alternative sowohl zu totalisierenden Sichtweisen, die die Welt über einen Kamm scheren, wie zum Relativismus, dem die Welt einerlei ist" (Hark und Villa 2018, 26).

Diese queer_feministischen Neubeschreibungen der Solidarität definieren sich über Differenzen, die "gerade ein Potenzial für Koalitionen" (Bargetz et al. 2019, 15) in sich tragen. In ihrem Verständnis von Solidarität als Differenz – als Geteiltes in einem doppelten Sinne – formulieren sie auch einen radikaldemokratischen Begriff der Solidarität, während sie über radikale Demokratietheorie hinaus gehen (Hark et al. 2015). Sie zeigen auf, dass sich Solidarität dort formt, wo Konflikte, Ungleichheit und Streitigkeiten zutage treten: wir geteilt sind; und wir teilen uns den Kampf gegen (Hetero-)Sexismus, Femizide, Rassismus, Polizeigewalt oder das Patriarchat. Queer_feministische Solidaritäten in Differenz be- und umschreiben Solidarität radikaldemokratietheoretisch neu, weil sie, erstens, den Dualismus von Selbst und Anderem unterlaufen, indem das Andere, im Sinne einer Binnendifferenz, ins Selbst geholt wird. Nicht nur ist das Selbst nie rein, autonom oder 'aufrecht'. Es ist immer schon verunreinigt, im Schmutz, verstrickt und 'verque(e)r'. Zweitens legen sie die historisch gewachsenen Tropen des Brüderlichen und Semantiken des Maskulinen offen (früh: Kreisky 1999). Hier erweitern Susemichel und Kastner das radikaldemokratietheoretische Repertoire. Die fraternalistisch-männliche Konnotation der Solidarität (Adorno 1951, 82f.) appelliert an Heldenmut und "kämpferisch[e] Entschlossenheit" (Susemichel und Kastner 2021b, 27), wie z.B. in der hermetischen Solidarität. Eine Dekonstruktion kann die Dimension des Brüderlichen im Begriff und der Geschichte der Solidarität bergen und dadurch kritisierbar machen. Solidarität kann als ein Gefühl jenseits brüderlicher Bünde geborgen werden, das sich in einem (wütenden) Nein zur Diskriminierungsstruktur bestehender Gesellschaft regt (Lorde 1984; Hemmings 2012). "Radikale Solidarität" (Susemichel und Kastner 2021a, 7) bildet eine Form der Zugehörigkeit aus, die gerade die Differenz, das Auseinanderklaffen, das Konfliktive betont – auch um essentialisierend-biologistischen oder nationalistischen Vorstellungen einer Gruppenzugehörigkeit entgegenzutreten. Wie schon Demokratie in den Ansätzen der radikalen Demokratietheorie mehr als nur eine Regierungsform darstellt, so ist auch Solidarität mehr als nur die (instrumentelle) Verfolgung eines gemeinsamen Ziels.

5. Das Scheitern der Solidarität: Kritiken des Humanitären

Das Scheitern der Solidarität ist in einem normativen Sinne nicht als problematisch zu erachten. Vielmehr wird in ihm die Un-Möglichkeit des Solidarischen wahrnehmbar. Scheitern in Solidarität, in Solidarität scheitern, verdeutlicht, wie viel Arbeit, wie viel Sorge- und Reproduktionsarbeit, in solidarischen Allianzen steckt. Das Scheitern hat eine weitere, demokratisierende Dimension: Solidarität in Differenz praktiziert sie vom Anderen her. Sie ist Teil einer demokratisierenden Kritik, die nicht zu sich selbst kommt. Wie eine Untote und Wiedergängerin bleibt un-mögliche Solidarität im Kommen: ge-teilt. Sie ist weder totalitär, identitär noch hermetisch.

Dieses Unvermögen, Solidarität zu festigen, verhandeln Schwarze Queer_Feminismen im Begriff des Flüchtigen (so z.B. Bey 2019; von Gleich 2022). Mit ihm kritisieren sie unter anderem die Kolonialität des europäischen Grenzregimes, welches, auch historisch, Weißsein und Menschsein unentwirrbar verbindet (Emejulu 2022). Hier geraten radikale Demokratietheorien schnell an ihre Grenzen. Sie thematisieren zwar Diskriminierung und Ungleichheit aufgrund von Rasse7, Geschlecht und Klasse, letztlich bleiben diese Verweise auf einer illustrativen Ebene stecken. Die spezifischen Logiken, die in rassifizierten, klassistischen und (ethno- und hetero-)sexistischen Ressentiments operieren, bleiben marginal problematisiert und untertheoretisiert. Daher ergänze ich radikaldemokratietheoretische Perspektiven um Schwarze Feminismen und postkoloniale Ansätze, um eine un-mögliche Solidarität im Sinne einer intersektionalen Erweiterung weiter auszuarbeiten. So betont Emejulu im Anschluss an die Arbeiten von bell hooks (1986; 2000), dass Feminismus konfliktiv operiert – eines der wichtigsten Motive der radikalen Demokratietheorie. In der Annahme, die hierarchischen Ordnungen des Status Quo aufzubrechen, treten zunächst vor allem "strife, discord and uncertainty" (Emejulu 2022, 62) hervor. Auch teilt Emejulu mit radikalen Demokratietheorien, dass die, mit Jacques Rancière (2002) gesprochen, polizeiliche Ordnung nicht in einem revolutionären Akt aufgehoben wird. Vielmehr wird in den Kämpfen der Anderen diese Ordnung zunächst sichtbar. Doch Emejulu – wieder in Bezug auf hooks – geht über radikale Demokratietheorie hinaus und diskutiert die Un-Möglichkeit intersektionaler Allianzen der Solidarität. Eine Schwarze feministische Politik benennt und versteht die "intersektionale Unterdrückung durch Rasse, Klasse, Geschlecht, Sexualität und Be_hinderung und bringt somit verschiedenen Personen/-gruppen zusammen, um für die Befreiung aller zu kämpfen" (Emejulu 2022, 63; Übersetzung und Hervorhebung MG).

Emejulu zeigt die Wegmarken einer solidarischen Praxis auf – und verweist zugleich auf ihre Un-Möglichkeit. Diese Un-Möglichkeit ist durch die radikale Unterscheidung zwischen dem Mensch und dem Anderen grundiert, die Emejulu für rassifiziert-rassistische Ordnungen aufzeigt: "Black people are not human, and what's more, there is an impossibility for us to be human." (Emejulu 2022, 3; Hervorhebung MG) Während poststrukturalistisch-queer_theoretische Ansätze, wie z.B. Butlers, aufzeigen, wie alterisierte Personengruppen dehumanisiert werden, um eine letale Hierarchie des Sozialen zu stabilisieren, zeigt Emejulu auf, dass Schwarze Personen nie als Menschen galten. Der Komplex Menschheit-Menschlichkeit-Menschsein ist unentrinnbar mit Weißsein verknüpft: "I believe that the human is a construction of whiteness and any discussion about Black inferiority is a product of the futile struggle to be recognised as human." (Emejulu 2022, 23) In Emejulus Betonung des Vergeblichen hallt auch das Un-Mögliche wider. Sie radikalisiert damit Butlers Kritik an der liberalen Kategorie des Humanitären als die große Gleichmacherin. Butlers Arbeiten zu rassifizierten Logiken bieten jedoch ein Einfallstor für weitere Überlegungen zur Un-Möglichkeit von Solidarität (Kelz 2015) und können an Emejulus Ausführungen angenähert werden. So weist auch Butler (2009, 58; 2004 30f.) die Möglichkeit einer humanistisch-humanitären Ähnlichkeit zurück:

"Those we kill are not quite human, and not quite alive, which means that we do not feel the same horror and outrage over the loss of their lives as we do over the loss of those lives that bear national or religious similarity to our own." (Butler 2009, 42; Hervorhebungen MG)

Hier zeigt Butler deutlich auf, wie Ähnlichkeitsannahmen das Andere nicht nur dehumanisieren, sondern es jenseits jedweder Humanisierung verorten. Doch zugleich, und dies ist das hoffnungsvolle Moment des Butlerschen Denkens, bleiben Selbst und Anderer verstrickt – und damit auch aufeinander angewiesen. Butler betont eine radikale, obschon nicht gleiche und machtfreie, Relationalität auf sozialontologischer Ebene: Humanisierte, dehumanisierte und nicht-humanisierte Lebewesen teilen ein Prekärsein, das sie dem Anderen aussetzt (Butler 2009, 42; 2004, 24). In einer ethisch-politischen Wendung argumentiert Butler (Butler und Athanasiou 2013, 107) nicht für die Aufgabe des Begriffs des Human-Humanitären, sondern für eine Dekonstruktion seiner rassistischen, sexistischen, vergeschlechtlichen, klassistischen, ableistischen und kulturalisiert-religiösen Sedimente. Das Dem-Anderen-Ausgesetztsein haben wir gemein. Wir teilen es, aber es teilt uns auch. Denn die soziale Realität produziert eine todbringende soziale Hierarchie der Prekarität.

In der Genese sozialer Prekarität identifiziert Butler insbesondere diskursive Strategien, die Prekarität nicht nur abbilden, sondern hervorbringen und stabilisieren. Betrachten wir den Diskurs zu ziviler Seenotrettung, fällt eine Sprache des Humanitären auf, die in zweifacher Weise Solidarität erzeugen soll: Erstens, im – oftmals auch christlich konnotierten – Verweis auf geteilte Menschlichkeit wird das Sterbenlassen im Mittelmeer auf einer humanitär-moralischen Ebene moniert (Vehrkamp und Gebhardt 2023). Das Retten wird zur "Christenpflicht" (Sea-Eye 2019) oder zu einem moralischen Imperativ weißer Personen. Im humanitären Imperativ des Rettens geht jedoch politische Verantwortung verloren: Die konkreten politischen Entscheidungen, von der historischen Kolonialisierung des Globalen Südens bis zur selektiven Migrations- und Asylpolitik Europas, verschwinden hinter einem Schleier des Humanitären. Das Sterben erscheint wie eine Tragödie, ein Schicksalsschlag oder eine naturgewaltige Katastrophe, für die niemand 'etwas kann' (Athanasiou 2017). Dass die Bürger*innen und Politiker*innen Europas jedoch Entscheidungen getroffen haben und immer wieder neu treffen, die das Sterben im Mittelmeer zulassen oder es angesichts der fehlenden Ähnlichkeit der Anderen, die im Mittelmeer ertrinken, fahrlässig in Kauf nehmen, gerät in den Hintergrund: Ihr Sterben erzeugt, Butlers Zitat von gerade aufnehmend, weniger Horror und (moralische) Empörung.

Darüber hinaus stehen im Mittelpunkt der Erzählungen über die Held*innen der Rettungsmissionen im Mittelmeer vor allem weiße Personen im Vordergrund, die im Mittelmeer 'europäische Werte', wie die vermeintlich unantastbare Würde des Menschen, aufrechterhalten – wieder eine normative Annahme, wieder eine De-Politisierung, wieder nur der Blick auf weiße Retter*innen (Ehrmann 2019; vgl. Sea-Eye 2019). Aus einer postkolonialen Perspektive werden Diskurse, die zivile Seenotretter*innen uneingeschränkt heroisieren, problematisiert. Sie reproduzierten koloniale Macht- und Herrschaftsverhältnisse und trügen damit zur Erzählung des des white saviorism bei (Dhawan 20158). Diese komplexe Konstellation, die sich u.a. aus der spannungsreichen Geschichte des Mittelmeerraumes ergibt (Proglio 2018), wird in aktivistischen Räumen der ZSNR inzwischen ebenso reflektiert wie die Reproduktion kolonialer und rassistischer Tropen durch weiße Aktivist*innen. So wächst das Bewusstsein für die Verstrickung in die "Kolonialität der […] Demokratie" (Kerner 2021) und die eigene privilegierte Position. So veranstaltete die Seebrücke Berlin, zusammen mit SOS Méditerranée und Sea-Eye, am 19.8.2021 unter dem Schlagwort Solidarity is Not Enough! eine Informationsveranstaltung zu "White Saviorism in Sea Rescue Activism" (Seebrücke 2021); die Seebrücke Schweiz organisierte am 11.3.2023 einen "Critical Whiteness Workshop" (Seebrücke 2023). Mittels einer postkolonialen Kritik gerät also weniger die Praxis der ZSNR in den Blick als deren Diskurs, über den Eurozentrismus, Kolonialismus und weißer Paternalismus reproduziert werden.

Doch kann die Verantwortung, koloniale Kontinuitäten zu unterwandern, nicht auf einzelne Aktivist*innen oder NGOs geschoben werden. Vielmehr müssen sich die weißen Mehrheitsgesellschaften Europas fragen, ob zivile Seenotretter*innen nur dann Anerkennung und Unterstützung erlangt, wenn sie innerhalb des "humanitarian space" (Vandevoordt und Fleischmann 2021) agieren und sprechen. Versuche, die politische Dimension der ZSNR zu betonen und jenseits moralischer Kategorien und des internationalen Rechts zu lokalisieren, deuten jedoch darauf hin, dass das Vokabular und die Motivik des Humanitären das Sag- und Darstellbarkeitsfeld bilden, in dem Aktivist*innen der ZSNR in den Mehrheitsgesellschaften (am besten) Gehör finden. Wenn sie wiederum in politisierendem Vokabular über ihr Tun sprechen, sehen sie sich oft mit ablehnenden Reaktionen konfrontiert.9 So wird die politische Dimension der ZSNR diskursiv verdeckt – oft aus strategischen Motiven (Schwiertz/Steinhilper 2020) –, um entweder möglichst breite Bevölkerungsschichten anzusprechen oder, angesichts massiver Kriminalisierung, aus Selbstschutz. Damit schwindet jedoch das radikaldemokratische Potential der ZSNR und Solidarität reduziert sich auf eine Fürsorge für den leidenden Anderen.

6. Solidarität als negative Praxis: Die Grenzen der Solidarisierbarkeit

Im Anschluss an die Kritik des Human-Humanitären ist die Solidarisierbarkeit der Anderen eine zentrale solidaritätstheoretische Frage: Solidarisierbar werden die Andere nur, wenn ihre Alterität kein unüberwindbares Hindernis für solidarische Allianzen darstellt – und als solches konstruiert wird –, sondern zur Grundbedingung des Solidarischen avanciert. Solidarität "beruht also auf Differenzen" (Susemichel und Kastner 2021, 15) und ist eine negative Praxis, die Akte der Verweigerung und des Widerstands kennzeichnen (Emejulu 2022, 62). So schreibt Marquis Bey (2019, 55; Hervorhebungen MG) im Sinne einer intersektionalen und koalitionären Politik des Solidarischen, dass Solidarität zunächst Verweigerung sei: "coalitional refusal […] does not straighten, does not entangle, and does not cohere […]." Die neuen Allianzen verweigern sich nicht nur den Postulaten der Alternativlosigkeit, sondern praktizieren andere Formen des Ge-Teilten. Als negative Praxis imaginiert diese solidarische Praxis radikale Alternativen und demokratischere Zukünfte. In ihrem Nein desorientieren und queeren solidarische Allianzen den Status Quo (Ahmed 2006), sie fabulieren andere Geschichten und Gegen-Narrative (Hartman 2008, Emejulu 2022, 50) und hinterfragen die patriarchale Ordnung (Honig 2021). So verbinden und verbreiten sich die multiplen solidarischen Allianzen als Vielfalt partialer, verortbarer und kritischer Wissensbestände in "horizontalen Netzwerken" (Hark und Villa 2018, 26).

Wenn wir mit diesen Kriterien der Verweigerung – Desorientierung, Gegen-Narration und Kritik der hegemonialen Ordnung – in die Empirie der zivilen Seenotrettung blicken, ist diese dann als eine solidarische Praxis zu verstehen? Wenn die Crew des vom Streetart-Künstlers Banksy finanzierten Rettungsschiffs Louise Michel, benannt nach der französischen Tierrechtsaktivistin, Feministin, Anarchistin und Kommunardin, ZSNR im Englischen von "Search and Rescue" in "Solidarity and Resistance" umdeuten (Banksy.blog. 2020; Sea-Watch 2022; Louise Michel o.D.), dann beobachten wir eine diskursive Politisierung der Praktiken der Solidarität und des Widerstandes. "Rescue" und "Resistance" gleiten metonymisch (Ahmed 2004, 119). Die Webpage der Louise Michel hebt den politischen Charakter von Rettung "an Europas tödlicher Seegrenze" ebenso explizit hervor wie eine intersektionale Perspektive. Die Seenotretter*innen möchten

"darauf aufmerksam machen, dass sich verschiedene Formen von Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten ineinander verschränken. Rassistische Grenzpolitik, sexistische Strukturen und eine kapitalistische Verwertungslogik können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Wir müssen diese Kämpfe bündeln und auf allen Ebenen Widerstand leisten! Deswegen stehen wir solidarisch an der Seite von allen Bewegungen weltweit, die ebenfalls für diese Überzeugung einstehen: Für eine Welt ohne Patriarchat, ohne kapitalistische Zwänge und mit uneingeschränkter Bewegungsfreiheit für alle!" (Louise Michel o.D.)

Von einigen Akteur*innen der ZSNR, so wie hier von Sea-Watch und der Crew der Louise Michel, wird das Retten als politische Solidaritätspraxis verstanden (Stierl 2023). Sie desorientieren Solidarität, da sie unbekannte, 'nicht-weiße', ja tote Leben retten. Sie lassen in ihren medialen Darstellungen die Anderen erzählen oder – falls das eigene Geschichtenerzählen nicht (mehr) möglich ist – sie fabulieren eine Geschichte über die Anderen, um sie sichtbar, hörbar, ja greifbar zu machen; und sie hinterfragen den Status Quo in verschiedener Hinsicht: Sie negieren die repressive push back-Policy an den EU-Außengrenzen, sie hinterfragen die aktuellen nationalen und supranationalen Gesetzgebungen und sie prangern die kolonialen Kontinuitäten an, die im europäischen Grenz- und Migrationsregime widerhallen.

Der Verweis auf das Humanitäre reicht den Aktivist*innen nicht aus, womit sie die Kritik von Emejulu und Butler am Begriff des Menschlichen aufgreifen. In der Darstellung ihres Aktivismus verweisen sie darauf, dass das Ertrinken von Personen im Mittelmeer das Resultat von konkreten Entscheidungen von Regierungen ist. Es ist "Made in Europe" wie dies Sea-Watch (o.D.) in der Kampagne "erTrinkwasser" von 2022 deutlich macht: Das Mittelmeer ist das "Wasser, das Menscheleben kostet." Das Ertrinken ist also Folge konkreten Regierungs(nicht-)handelns: "Die Todesursachen: Keine staatliche Seenotrettung und ein Europa, das sich immer mehr abschottet.", so fasst Sea-Watch zusammen. Das Ertrinken stellt nicht nur ein "Scheitern der Humanität", sondern auch der "Solidarität" dar: Solidarität ist eben nicht genug (Seebrücke 2021). Darüber hinaus stellen die Aktivist*innen der Louise Michel auch Verbindungen zu anderen Kämpfen her: gegen Rassismus, Kapitalismus und (Neo-)Kolonialismus und für Klimagerechtigkeit.

Im Zitat wird darüber hinaus deutlich, dass sich ZSNR auch als eine politische Bewegung verstehen kann, die Widerstand gegen Politiken des Ertrinkenlassens leistet. Erst wenn Solidarität als widerständig, als eine Praxis der Differenz, als un-möglich markiert wird, kann Solidarität als eine politische Praxis ausgewiesen werden, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse radikal in Frage stellt. Denn während ein moralisierender Solidarismus (Bourgeois 2020 [1896]) auf die Gleichheit (der solidarischen Männerbünde, der menschlichen Wesen mit Würde) rekurriert, verweisen politisierende Praxen des Solidarischen in Differenz auf zweifache Weise auf Geteiltheit/Teilung: Erstens auf eine soziale Realität der Ungleichheit. In ihr können Solidaritätspraktiken zu einem Werkzeug der Herrschafts- und Machtkritik werden, wenn auf die Bedingungen dieser Ungleichheit – wie z.B. Rassismus – verwiesen wird. Zweitens weiten politisierende Praktiken der Solidarität die Grenzen der Solidarisierbarkeit aus. In der Teilung verweisen sie auf das Geteilte. Diese Teilung des Geteilten macht Solidarität unter den differenten Vielen möglich, die im Kampf gegen Rassismus, das Patriarchat oder sozioökonomische Ungleichheit ein "neues Gemeinsames" stiften, das sie versammelt und teilt: Es ist "Solidarität ohne Identität" (Hark et al. 2015, 101 und 99). Ihre Anteillosigkeit wird ebenso sichtbar wie die differentielle Distribution dieser Auf-Teilung (Rancière 2002, 99-111). Damit wird auch deutlich, dass dieses solidarische Wir nicht von einer gemeinsamen Position aus agiert, spricht und protestiert. Vielmehr bildet sich das Nicht-Wir als eine multipositionale Kakophonie, die nicht immer harmonisch gestimmt und nicht in gleicher Weise von Ungleichheit betroffen ist.

An dieser Stelle ergänzen queer_feministische und Schwarze Perspektiven Ansätze der radikalen Demokratietheorie. Alle drei machen die Logiken des Ausschlusses sicht- und sagbar. Doch gehen queer_feministische Überlegungen und Schwarze Feminismen von der Realität sozialer Ungleichheit aus und benennen die abstrakt theoretisierten Ausschlüsse in ihrer Alltäglichkeit und Normalisierung. Sie insistieren damit auch auf die Notwendigkeit einer steten Vertiefung der Demokratie im Namen der Demokratisierung – und im Angesicht der Anderen. Diese Demokratisierung der Demokratie wird dabei nicht von der Suche nach Stabilität und Sicherheit vorangetrieben, sondern in flüchtigen Momenten der Verunsicherung praktiziert und verkörpert. Demokratisierung destabilisiert Normalität. Diesen Gedanken teilen die vorgestellten Theorieperspektiven, wenngleich insbesondere Schwarze Ansätze eine Theorie des Flüchtigen vorlegen (von Gleich 2022, Emejulu 2022).10 Dabei ist die Theoretisierung selbst von Verunsicherung und Instabilität gekennzeichnet – sie ist eine "wilde These" und ein "paradoxales Experiment" –, da sie eine "poröse, wechselhafte und instabile Identität" in ihren Mittelpunkt stellt: die Flüchtenden, die Flüchtigen (Emejulu 2022, 9, Übersetzung MG). Von ihr aus gefragt ändern sich die Praxen der Solidarität grundlegend:

"What would it look like to generate relations of care and solidarity with those Others outside the category of human? For instance, what gets exposed about the inhumanity of Europe's borders when we consider placing the interests and needs of the fugitive – the migrant, the refugee, at the centre of our caring and solidaristic politics?" (Emejulu 2022, 9; Hervorhebungen MG)

Schwarze und postkoloniale Perspektiven zeigen die weißen Flecken der radikalen Demokratie- und feministischen Theorie auf: Indem die Gleichheitsversprechen, Freiheitserzählungen und Solidaritätsbekundungen der liberalen (Post-)Demokratie in ihrer Kolonialität (Ehrmann 2021; Kerner 2021; Picozza 2021) dekonstruiert werden, kann eine Solidarität zwischen Differenten möglich werden – und bleibt doch auf ihre Unmöglichkeit verwiesen. Auf die ZSNR bezogen, heißt dies: Auch wenn die vorwiegend weißen Crew-Mitglieder und Aktivist*innen der ZSNR die kolonialen Kontinuitäten benennen, bleiben auch sie tief eingewoben in die Kolonialität des europäischen Grenzregimes. Diese Kolonialität existiert nicht nur an den 'Rändern' Europas, sondern ihre Logik und Mechanismen wirken tief ins Innere der europäischen Demokratien. Kolonialität – in der unentwirrbaren Verknüpfung mit Kapitalismus, Rassismus und dem Patriarchat – stellt nicht das Gegenteil der (liberal-)demokratischen Systeme dar. Sie ist ihre Kehrseite: nicht von ihr zu trennen, unentwirrbar. Achille Mbembe (2019, 15–27) beschreibt diese Seite als dunkel. Doch die Dunkelheit verweist nicht nur auf die passiv-passivierende Opazität der Demokratie, sondern auch auf deren nachtaktive Seite ("nocturnal", Mbembe 2019, 15). Sie ist der Raum, in dem Subjekte flüchtig werden. Denn nocturnal rekurriert nicht nur auf die nächtliche Dunkelheit, in der wir zur Ruhe kommen. Vielmehr bringt die opake Aktivität der Nacht auch die Widerstandskämpfe unterdrückter rassifizierte Subjekte hervor, die im Schatten der Demokratie die Demokratie demokratisieren, wenngleich vielleicht 'nur' für einen flüchtigen Moment.

7. Fazit: Die Solidarisierbarkeit der Anderen

Demokratie ist für Derrida ein Projekt, das die Konturen der Demokratie im Hinblick auf ihre Zukunft hin skizziert – ohne die Gespenster der Vergangenheit und ihr Nachwirken in Gegenwart und Zukunft zu ignorieren. Er schreibt, dass "der Ausdruck 'kommende Demokratie' [nach einer] kämpferische[n] und schrankenlose[n] politischen Kritik" verlangt (Derrida 2019, 123). In diesem Sinne praktizieren die Aktivist*innen der ZSNR Solidarität, die ich als un-möglich beschrieben habe: Denn sie streiten um die Demokratisierung der Demokratie, um zu verdeutlichen, dass Solidarität an unmöglichen Orten hergestellt werden kann; dass sie, jenseits von parlamentarischer oder direkter Demokratie, der Demokratie als Praxis der Kritik einen Raum eröffnet. In dieser Eröffnung ist es der radikal Andere, dem ich ausgeliefert bin und dem ich mich ausliefere. Nur er deportiert mich in den Raum der un-möglichen Solidarität. Das Un-Mögliche interveniert damit auf eine demokratisierende Weise in den postdemokratischen Zustand der liberalen Demokratie. Eine un-mögliche Solidarität hält die Demokratie im Kommen: setzt sich dem Anderen aus. Sie changiert zwischen einer radikaldemokratischen Bewegung der kommenden Demokratie und der kolonialen Kontinuität des mediterranen Grenzregimes.

In den hier erfolgten kritischen Annäherungen habe ich diese Verbindung zwischen Demokratisierung und Solidarisierbarkeit aufgezeigt und u.a. im Hinblick auf Politiken des Trauerns durchgespielt. Die Dekonstruktion der Solidarität fordert deren Annahmen von (brüderlicher) Nähe heraus. Sie fragt nach einer Möglichkeit von Solidarität im Angesicht der Anderen. Die demokratisierende Verbindung zwischen Solidarität und Trauern war ein Beispiel un-möglicher Solidarität, die in Bezug auf die Praxis der ZSNR eine hervorgehobene Bedeutung spielt; und zwar aus zwei Gründen: Sie unterläuft, erstens, die autoritäre, nationalistische, familialistische Perspektive, in der ein Wir nur um diejenigen trauert, nur mit denjenigen solidarisch sein kann, die ihm nah und ähnlich sind. Sie verlässt damit, zweitens, ihren angestammten Platz, indem sie um anonyme Tote im Mittelmeer trauert. Zivile Seenotrettung bleibt nicht dort, wo sie hingehört. Sie fährt hinaus und hat dort auf eine seltsame Weise einen Platz. Und doch bleibt sie un-möglich. Denn wenn die europäische Demokratie ihren politischen und humanitären Ansprüchen konsequent folgen würde, wäre ZSNR obsolet: Entweder es gäbe staatliche Strukturen der Seenotrettung, die das Mittelmeer von seiner Existenz als Todeszone sukzessive befreien würden, oder, noch radikaler: die Bewegung von Menschen zwischen Staaten und Kontinenten würde entkriminalisiert und damit (un-)möglich.

Notes

  1. Das Watch the Med Alarm Phone Projekt ist ein selbstorganisierter Call-Center für Geflüchtete in Seenot, das 2014 von Aktivist*innen in Europa und Nordafrika gegründet wurde. Das Alarm Phone gibt die Notrufe an die zuständigen Behörden und Küstenwachen weiter. Es betreibt selbst keine Seenotrettung, ist aber ein wichtiger Kooperationspartner von (ziviler) Seenotrettung (Alarm Phone o.D.). [^]
  2. Ich danke Sarah Spasiano für diesen wichtigen Hinweis. [^]
  3. https://alarmphone.org/wp-content/uploads/2021/02/Commemoration-9-Februar-2020.pdf. [^]
  4. Das empirische Material entnehme ich den kollaborativen Arbeiten der interdisziplinären Forschungsgruppe ZivDem ("Zivile Seenotrettung als Kristallisationspunkt des Streits um Demokratie", Gerda Henkel Stiftung). Es basiert insbesondere auf beobachtender Teilnahme, Interviews und Gesprächen mit Aktivist*innen und einem diskursanalytischen Zugang. [^]
  5. Die Mission der C-Star war von administrativen und technischen Problemen sowie dem fehlenden nautischen Knowhow der IB geprägt: So gab es unter den Identitären nicht genügend Personen, um die Schiffscrew zu stellen. Daher wurden sri-lankische Matrosen, die vorher bereits auf dem Schiff tätig waren, angeheuert. Das Boot wurde kurz nach seinem Aufbruch zunächst im Suez Kanal und dann noch einmal vor Zypern gestoppt, da einige der sri-lankischen Crewmitglieder über keine gültigen Visa verfügten und die Identitären selbst der Beihilfe zu illegaler Migration beschuldigt wurden. Auch verweigerten Häfen in Italien und Malta die Einfahrt der C-Star, da der schwedische Schiffseigner die Andockungsgebühren nicht garantieren konnte. Zu einer genaueren Beschreibung von Defend Europe verweise ich auf Cusumano (2022, vor allem: 493f.) und Murdoch 2017. [^]
  6. So gibt es, nach Aussagen von Aktivist*innen, keine fixierten rechtlichen Regelungen für dem Umgang von Toten, die zivile Seenotretter*innen auf dem Mittelmeer bergen. Hier müssen die Organisationen nicht nur ein technisches Verfahren, sondern auch eine ethische Praxis im Umgang mit den Toten finden; z.B. gibt es an Bord nur begrenzte Kühlmöglichkeiten, die für Nahrungsmittel und Medikamente gebraucht werden. Eine gängige Praxis der NGOs ist es daher, die Leichen mit Schwimmwesten zu versehen, damit sie nicht untergehen und von der verständigten Küstenwache abgeholt werden können – ohne, dass die NGOs sicher wissen können, ob die Leichen abgeholt werden. Fischerboote, die ertrunkene Personen finden, bringen diese oft zum lokalen Friedhof, auf dem eine Fläche für nicht-identifizierte Tote ausgewiesen ist (Corso 2023). [^]
  7. Um Rassismus kritisieren und problematisieren zu können, schreibe ich die ihm zugrundliegende Vorstellung einer Existenz von Rassen aus. Ich verzichte auf euphemistische Alternativen wie Ethnie oder Kultur. Mit dem Durchstreichen mache ich jedoch auf Ebene der Schriftsprache deutlich, dass es sich bei Rasse um eine diskursive Konstruktion handelt. [^]
  8. Kritik an der zu einseitigen Perspektive Dhawans wird von Susemichel/Kastner 2021b, S. 43f. geübt. [^]
  9. Dabei muss ich hier deutlich darauf verweisen, dass die Organisationen und Akteure der ZSNR keine homogene Gruppe sind und sehr unterschiedliche Politisierungsgrade aufweisen. Dies sieht man z.B. an einem Interview mit David Starke von SOS Méditerranée und seinem Verweis auf politisierende Akteure wie Carola Rackete (Breyton 2019). Auch während des vom Auswärtigen Amt organisierten eintägigen Roundtable Event "Search and Rescue in the Central Mediterranean: Perspectives from Civil Society”, zu dem ich im Rahmen meiner Tätigkeit in der Forschungsgruppe ZivDem eingeladen war, waren die heterogenen Positionen der verschiedenen NGOs präsent. [^]
  10. Die Theoretisierung der Flüchtigkeit rückt radikaldemokratische, postkoloniale und Schwarze Theorie aneinander. Nicht nur Arendt, Rancière und Mbembe verweisen auf die "flüchtige Präsenz” (Gebhardt 2019) des Anderen. Vielmehr hat eine Schwarze feministische Theorie das Flüchtige zur zentralen Kategorie erhoben: Es wird zur sozialen Ontologie des rassifizierten und kolonialen Kapitalismus, die in den Infrastrukturen der zeitgenössischen liberalen Demokratie widerhallt. [^]

Förderinformation

Der Beitrag entstand während des Fellowships "Krisen der Solidarität" am Forschungsschwerpunkt Interkulturelle Begegnungen – Interkulturelle Konflikte der Universität Innsbruck im September 2022. Weiter ausgearbeitet habe ich ihn auf meinem Stipendium der Gerda Henkel Stiftung im Rahmen der Forschungsgruppe Zivile Seenotrettung als Kristallisationspunkt des Streits und Demokratie (ZivDem).

Danksagung

Ich danke Michaela Bstieler und Sergej Seitz sowie dem Forschungsschwerpunkt Interkulturelle Begegnungen – Interkulturelle Konflikte der Universität Innsbruck für die Möglichkeit, dieses Paper im Rahmen des Fellowships "Krisen der Solidarität" auszuarbeiten. Meinen Co-Fellows, Thomas Telios und Sarah Teufel, sowie allen Teilnehmer*innen des Abschluss-Workshops – insbesondere Judith Möllhoff, Matthias Flatscher und Anna Weithaler – danke ich für das konstruktive Feedback. Mein Dank gebührt auch meinen ZivDem-Kolleginnen Sarah Spasiano und Maria Ullrich für die differenzierte Lektüre und die konkreten Hinweise zur Empirie des Beitrags. Außerdem danke ich den Diskussionsteilnehmenden am Forum Internationale Wissenschaft und an der Bremen International Graduate School of Social Sciences sowie den zwei anonymen Gutachter*innen für ihre wertschätzend vorgebrachte Kritik.

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