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Identifiziert euch (nicht): Deixis, Adressierung und Distanzmanagement in Shida Bazyars Drei Kameradinnen

Author: Judith Niehaus (Universität Bonn)

  • Identifiziert euch (nicht): Deixis, Adressierung und Distanzmanagement in Shida Bazyars Drei Kameradinnen

    Research

    Identifiziert euch (nicht): Deixis, Adressierung und Distanzmanagement in Shida Bazyars Drei Kameradinnen

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Abstract

This article examines deixis and reader address in narrative texts in order to develop a differentiated and appropriate understanding of identification for the analysis of literary texts, especially with regard to questions of identity and representation. Taking a close reading of Shida Bazyar's 2021 novel Drei Kameradinnen as a starting point, I show how deictic procedures and the inclusion or exclusion of readers in addressing them function on the one hand as strategies managing and navigating distance and proximity, and on the other hand as devices constituting a co-presence of narrator and reader. Drei Kameradinnen in particular, directly addressing the reader and involving them in deictic procedures and literary text in general, by employing deictics and implying addressees, demand an identification, conceived as a process not of empathizing with a character, but of adopting a deictic center of orientation (origo).

Keywords: identification, deixis, reader address, representation, narratology, pragmatics, Shida Bazyar, contemporary german literature

How to Cite: Niehaus, Judith. "Identifiziert euch (nicht). Deixis, Adressierung und Distanzmanagement in Shida Bazyars Drei Kameradinnen." Genealogy+Critique 10, no. 1 (2024): 1–20. DOI: https://doi.org/10.16995/gc.10586

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Published on
2024-02-16

Peer Reviewed

"Ich höre jetzt auf, weiterzuschreiben. Das hat keinen Zweck, denn ich versuche mir permanent vorzustellen, wer ihr seid, während ihr euch vorzustellen versucht, wer wir sind." (26) Ich höre natürlich nicht auf, weiterzuschreiben, ich habe ja gerade erst begonnen. Aber mit dem zitierten 'Ich' bin ja auch nicht ich – die Verfasserin dieses Textes – gemeint, sondern Kasih, die Erzählerin und Protagonistin in Shida Bazyars Drei Kameradinnen (2021).1 Mit 'ihr' und 'euch' adressiert Kasih ihre Leser:innen, die sie an anderer Stelle auch als "Deutschlehrer und Deutschlehrerkinder" (63) bezeichnet (oder beschimpft). Dass dem adressierten Ihr nicht nur ein adressierendes und erzählendes Ich, sondern auch ein anderes, deutlich vom Ihr unterschiedenes Wir gegenübersteht, ist die zentrale Konfliktkonstellation des Romans.

In dem eingangs zitierten Satz meint 'wir' die titelgebenden Drei Kameradinnen: Saya, Hani und Kasih. Die drei Freundinnen teilen "die Erfahrung von Rassismus und Sexismus" nicht nur miteinander, sondern auch mit einer "ganze[n] Phalanx deutscher Autorinnen",2 in die Bazyar von der Rezensentin Meike Feßmann eingeordnet wird und von denen "die beiden Debatten rund um gender und race zusammen[gebracht]" werden (Feßmann 2021). In Bazyars Roman steht die (strukturelle) rechte Gewalt in Deutschland, wie sie auch in 1000 serpentinen angst (Wenzel 2020) oder Identitti (Sanyal 2021) zum Gegenstand wird, im Vordergrund – das Wir schließt häufig all jene ein, die eine "Einwanderungsgeschichte" (84) haben und von rassistischer Gewalt bedroht sind. So auch Life, eine von Rassismus betroffene Schwarze Figur, die angesichts des für den Roman zentralen Prozess' gegen Neonazis über die Aussage einer Anwältin sinniert, der zufolge "'wir' in diesem Prozess versuchen würden, Deutschland wieder zu vertrauen" (298). Die Anführungszeichen heben hier das Wir hervor und werfen die Frage auf, wer dieses Wir konstituiert und wie sich Life dazu verhält. Manchmal handelt es sich bei dem erzählenden Wir aber auch um ein souveränes, die Adressat:innen jovial einschließendes Wir, in diesem Sinne: "Fangen wir also […] an." (9)

In einem ersten Schritt zeige ich nachfolgend, dass in Drei Kameradinnen Deiktika – wie die Personalpronomen ich, wir oder ihr – und Adressierungen – wie "ihr Deutschlehrerkinder" – in bemerkenswerter Häufung auftreten, wobei sich diese in verschiedene Typen und nach unterschiedlichen Funktionen differenzieren lassen (I). Anschließend gehe ich auf das spezifische Potential von Deixis in narrativen Texten ein, eine von Erzählinstanz und Adressat:innen geteilte Gegenwart zu evozieren; darauf aufbauend reflektiere ich Deixis, Adressierung und Kopräsenz in Bezug auf Identität und Identifikation (II). Zu Bazyars Roman zurückkehrend frage ich nach den Funktionen der in Drei Kameradinnen eingesetzten adressierenden und deiktischen Verfahren in Bezug auf Identifikation (III), um abschließend den Blick noch einmal zu weiten und die wichtigsten Beobachtungen zusammenzufassen (IV). Im Zentrum meines Interesses stehen also mit Fragen nach geteilter Gegenwart und Identifikation sehr allgemeine Themen, denen ich mich über sehr konkrete sprachliche Verfahren, nämlich Deiktika und Adressierungen, annähere, weil in literarischen Texten Kopräsenz und Distanz, Identität und Identifikation sprachlich und formal vermittelt und hergestellt werden.

I. Drei Kameradinnen – Hier und Jetzt

Noch bevor die Erzählerin Kasih daran scheitert, "vorne anzufangen", erklärt sie in einem selbstreflexiven Kommentar die Genese und die Funktion des Textes:

Dieser Text ist der Versuch, mich eine Nacht lang zusammenzureißen. Eine Nacht lang niemanden aus dem Fenster zu schmeißen, kein Internet-Troll zu werden, zu warten. Der Versuch, auf meine Freundin Saya zu warten, die aus dem Knast kommen soll. (8)

Damit eröffnet sie zwei Ebenen: Erstens eine metanarrative Ebene, die zahlreiche, stark deiktisch gestaltete Schreibszenen enthält; und zweitens die Handlungsebene, an deren Ende jenes Ereignis steht, das den Anfang des Erzählens (und den Anstoß zu ihm) darstellt: die Verhaftung von Saya. Der "Jahrhundertbrand in der Bornemannstraße" (4), für den Saya von der Polizei und der Presse verantwortlich gemacht wird, ist Gegenstand und Titel eines Zeitungsartikels, der typographisch vom eigentlichen Romantext abgegrenzt ist und, noch bevor Kasih mit ihrer Erzählung einsetzt, abgedruckt wird. Kasih erzählt von den Tagen vor dem Brand und beginnt dabei mit der Ankunft von Saya in der Stadt, in der Kasih und die gemeinsame Freundin Hani leben.

Das Wiedersehen der Freundinnen anlässlich der Hochzeit einer gemeinsamen Bekannten fällt zusammen mit dem "größte[n] Prozess seit Gründung der Bundesrepublik" (345). Die vor Gericht stehende "rechtsterroristische Gruppe, die jahrelang im Untergrund gelebt und vorzugsweise muslimische Menschen, vorzugsweise weibliche muslimische Menschen, getötet hat" (ebd.), ist einerseits klar am Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) orientiert, andererseits aber deutlich von diesem unterschieden. Die Opfer des NSU waren bis auf eine Ausnahme nicht weiblich, womit eine Differenz markiert wird. Dieser stehen aber mit dem Verweis auf publizierte "Chat-Protokolle" (83) und die "Selbstenttarnung" (84) der Gruppe offensichtliche Gemeinsamkeiten gegenüber. Die Referenz auf den NSU als (vermeintlich) kollektiv erinnerten Fixpunkt in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik, reflektiert Kasih in folgender Passage ausführlicher:

Aber was mache ich hier eigentlich, warum erzähle ich euch jetzt die Hintergründe zu den Mörder-Nazis, ihr wisst das alles doch schon, ihr habt das doch selbst mitbekommen, vor ein paar Jahren waren die Zeitungen voll davon. Und falls ihr es nicht mitbekommen habt, dann weiß ich mehr über euch, als ihr euch vorstellen könnt, dann weiß ich alles über euch, dann weiß ich, wie weiß, wie geschützt euer Leben ist, wie frei von Gewalt, wie frei von Angst. Dass ihr definitiv weiße Menschen ohne Einwanderungsgeschichte oder erwähnenswerte Religionszugehörigkeit seid, denn sonst hätte diese Geschichte nicht an euch vorbeigehen können. Es ist die grauenhafteste Geschichte seit der Gründung eurer Bundesrepublik, und sie erzählt uns so viel über dieses Land. Wenn ihr damals die "Selbstenttarnung" der Gruppe verpasst habt, wenn ihr die Bilder der Getöteten nicht kennt, […] dann tut mir zur Hölle einen Gefallen, benutzt euer Internet und recherchiert nochmal ganz kurz, in welchem verdammten Land ihr lebt. (84)

Mindestens drei Aspekte von Deixis und Adressierung sind in dieser Textstelle bemerkenswert. Erstens sind dies die Lokal- und Temporaldeiktika 'hier' und 'jetzt', mit denen der Wechsel auf die metanarrative Ebene eingeleitet wird. Während die Schreibszenen und selbstreferentiellen Reflexionen Kasihs häufig durch Absätze von den erzählenden Passagen abgegrenzt werden, setzen sie hier unmittelbar ein und unterbrechen eine Szene, in der Kasih und Saya sich über besagte Chat-Protokolle unterhalten. 'Hier' und 'jetzt' befördern Kasih, die natürlich mit Saya ebenfalls ein Hier (ein Café) und Jetzt (ein Mittwochvormittag nach einem Termin beim Jobcenter) teilt, an ihren nächtlichen Schreibtisch. Denn nur von dort, als stünde dieser Schreibtisch auf der nächsthöheren Erzählebene, wendet sich Kasih qua direkter Adressierung an die Leser:innen.

Die direkte Adressierung ist der zweite bemerkenswerte Aspekt, und zwar weil sie über das Personalpronomen 'ihr' hinausgeht. Genau entgegengesetzt zur eingangs zitierten Beschimpfung als "Deutschlehrer und Deutschlehrerkinder" wird dabei der Adressat:innenkreis bewusst offengelassen. Kasih differenziert zwischen den Leser:innen, die "das doch selbst mitbekommen" haben, und jenen, die gegenüber den rassistischen Anschlägen ignorant sind, wozu, wie Kasih schließt, nur "weiße Menschen ohne Einwanderungsgeschichte oder erwähnenswerte Religionszugehörigkeit" gehören können. Indem die Erzählerin zwei komplementäre Subgruppen ihrer Leser:innen adressiert, stellt sie sicher, dass jede:r Leser:in in eine dieser Gruppen inkludiert ist. Die Differenzierung und Definition der zwei Gruppen von Adressat:innen entlang des Wissens über "die grauenhafteste Geschichte seit der Gründung eurer Bundesrepublik" ist allerdings nicht so deutlich, wie es scheint.

Dies offenbart sich – drittens –, wenn der über eine Adressierung hinausgehenden Aufforderung Kasihs Folge geleistet wird, nämlich der expliziten Aufforderung dazu, sich im Internet über die "Mörder-Nazis" zu informieren. Wird dies seitens der realen Leser:innen tatsächlich umgesetzt, also – nahezu metaleptischerweise – dem Auftrag einer fiktiven Figur nachgekommen, stellen sich die gegebenen Referenzen als falsch heraus. Statt über die fiktionale rechte Terror-Gruppe werden gängige Suchmaschinen auf Basis einer nahezu beliebigen Kombination der von Kasih genannten Schlagwörter (Selbstenttarnung, Mörder-Nazis, Chat-Protokolle) Informationen über den NSU und dessen reale Opfer auswerfen. Es sind also keine konkreten Wirklichkeitsreferenzen, die hier einen Realitätseffekt zeitigen, sondern es sind erstens Google und zweitens die strukturelle rechte Gewalt in Deutschland.

Auf Realitätsreferenzen in Form von (Online-)Lektüren nimmt auch die folgende Passage Bezug, die an eine vollständig wiedergegebene Nachricht eines Rechtsradikalen anschließt, die Saya erhalten hat.

Es tut mir leid, dass ihr euch das jetzt auch durchlesen musstet. Weil ihr aber das Internet schon mal benutzt habt, war das ja wohl nicht das erste Mal, dass ihr so was gelesen habt. Falls doch, muss ich euch noch weiter beunruhigen, denn das hier waren nur meine abgeschwächten Formulierungen, die echte Nachricht war schlimmer. Das ist wie mit dem Artikel ganz am Anfang, wisst ihr noch? [D]er war in echt auch viel schlimmer, seid froh, dass ihr nur meine Version kennt. (257)

Mit der Formulierung "meine Version" wird hier die Zuverlässigkeit der Erzählerin in Frage gestellt: Dass Kasih ein als Zitat im Text angeführtes Dokument verändert hat und dies erst im Nachhinein eingesteht, kann eine generelle Verunsicherung auslösen. Derlei Hinweise auf unzuverlässiges Erzählen häufen sich in der zweiten Hälfte des Romans, bis Kasih zuletzt fragt: "Warum glaubt ihr mir überhaupt […]? Warum habt ihr mir eigentlich geglaubt, wenn ihr die ganze Zeit skeptisch wart, wieso wart ihr mir gegenüber eigentlich skeptisch, wo ich es doch war, die euch ständig entlarvt hat. Habt ihr wirklich geglaubt, Saya wäre eingeknastet worden?" (346)

Darüber hinaus hebt Kasih mittels deiktischer Verweise auf den (zeitlichen) Verlauf der Lektüre ab: Ihr Text wird 'jetzt durchgelesen'. Dem Verlauf der Lektüre korrespondiert der Verlauf des Erzählens – und der Handlungsverlauf, auch wenn Kasih die Ereignisse nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt.3 An anderer Stelle schreibt sie: "Wir haben uns dem grauenhaften, entscheidenden Tag genähert, ihr aufmerksamen Leser. Seid ihr noch da?" (285) Die Leser:innen, die Kasih übrigens im generischen Maskulinum anspricht, werden im ersten Satz dieses Zitats zunächst mit einem inklusiven 'wir', und dann mit dem Personalpronomen 'ihr' adressiert, und dabei mit dem Adjektiv 'aufmerksam' attribuiert. Ob die Leser:innen tatsächlich aufmerksam4 sind, ist weniger deutlich zu beantworten als die nachfolgende Frage "Seid ihr noch da?". Diese ist mit dem bereits thematisierten 'jetzt durchlesen' verwandt: Das 'jetzt durchlesen' wird im Prozess des Durchlesens aktualisiert; die Frage "Seid ihr noch da?" wird stets mit 'Ja' beantwortet, denn Leser:innen, die hier negieren würden, wären ja eben jene, die ihre Lektüre abgebrochen haben. Es handelt sich in beiden Fällen um Spielarten performativer Leseakte, in denen über Deiktika – 'jetzt' und 'da' – der Text durch die Leser:innen aktualisiert wird.5 Darin können sie eine phatische Funktion erfüllen, da sie gleichsam dazu dienen, den Kontakt zu gewährleisten und aufrecht zu erhalten.6

II. Deixis, Kopräsenz, Identifikation

Deixis, Deiktika und deiktische Prozeduren sind zuvorderst Gegenstand der Sprachwissenschaft und Zeichentheorie geworden. Als Ausgangspunkt der Theorien zur Deixis dient gemeinhin die Unterscheidung zwischen "deiktischen (oder Zeigfeld-) und nicht-deiktischen (oder Symbolfeld-)Ausdrücken" (Ehlich 2011b, 170), wie sie bereits 1934 von Karl Bühler vorgenommen wurde. Während die Bedeutung von Symbolfeld-Ausdrücken sprachlich festgelegt ist, sind es bei "deiktischen Ausdrücken wie ich, du, heute, gestern, hier, dort […] Aspekte der unmittelbaren Äußerungssituation – wer spricht wann wo zu wem –, von denen ihre Bedeutung abhängt" (Finkbeiner 2018, 186).

Ich möchte für meinen kurzen Einstieg in die Terminologie und Theorie der Deixis auf Konrad Ehlichs Arbeiten zurückgreifen, der über seine einschlägigen sprachwissenschaftlichen Studien hinaus eine wichtige Rolle für die Analyse deiktischer Prozeduren in literarischen Texten spielt.7 Von besonderem Stellenwert für meine Argumentation ist Ehlichs Ausdifferenzierung des Verweisraums, mit dem er Bühlers Zeigfeld weiterentwickelt. Der Verweisraum ist, im "elementaren Fall", der Sprecher:innen und Hörer:innen "gemeinsame Wahrnehmungsraum, in dem die Sprechhandlung geschieht und der sinnlich zugänglich ist" (Ehlich 2011b, 169). Dessen Mittelpunkt ist die bereits von Bühler eingeführte 'Hier-Jetzt-Ich-Origo', von der aus der Verweisraum gleichsam aufgespannt wird. Aber auch, wenn Sprecher:in und Hörer:in sich nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort befinden, also keinen Wahrnehmungsraum teilen, werden Deiktika eingesetzt. Die für literarische Texte relevanten Verweisräume sind der Textraum und der Vorstellungsraum.

Deiktische Prozeduren im Vorstellungsraum, den Ehlich im Anschluss an Bühlers 'Deixis am Phantasma' entwickelt, gelingen auch in der Fiktion: Sender:innen entwerfen einen Vorstellungsraum und orientieren darin die Aufmerksamkeit der Empfänger:innen, diese müssen, damit die deiktischen Prozeduren gelingen, wiederum selbst den Vorstellungsraum der Sender:innen imaginativ (nach)entwerfen (Ehlich 1985, 251) – sie müssen die Origo des Vorstellungsraumes übernehmen. Ehlich greift insbesondere auf Texte von Joseph Eichendorff zurück, um zu demonstrieren, wie Deixis, zuvorderst in Landschaftsbeschreibungen, den Vorstellungsraum zu einer "Wirklichkeit des Lesers" (Ehlich 1985, 253) macht und damit der Herstellung von Unmittelbarkeit dienen kann.

Eine weitere Form des Verweisraums ist der Textraum. Im Textraum werden "Wissenspartikel bzw. Elemente des Textes" zum Gegenstand der Deixis. Die deiktische Prozedur des Textraums ist eine "Orientierungshandlung, die der Autor des Textes bei dessen Leser zu erreichen versucht" (Ehlich 2011a, 129, Herv.i.O.). Die Deixis steht in diesem Fall meist im Dienste der Orientierung der Leser:innen und der Organisation des Textes. Unter dem Terminus discourse deixis und im Rückgriff auf die Arbeiten Ehlichs hat Andrea Macrae eine Systematik dieser deiktischen Prozeduren erarbeitet.8 Dabei differenziert sie anhand verschiedener metafiktionaler und metanarrativer Beispiele zwischen drei Typen von Diskursdeixis: Erstens Referenzen auf den materiellen Text, etwa auf Seitenzahlen, das Objekt Buch und das Blättern darin; zweitens Kommentare zum Textaufbau, zum Beispiel Zusammenfassungen, Vorgriffe und Rückbezüge auf andere Textteile; und drittens Bezugnahmen auf den Prozess des Erzählens oder Lesens, also "the act and creation of the storyworld" auf narrativer bzw. rezeptiver Ebene (Macrae 2019, 49).

Spätestens mit Blick auf die Prozessualität des Erzählens und Lesens, mithin zeitliche Vorgänge, stößt das räumliche Paradigma zur Beschreibung der verschiedenen Verweisräume an seine Grenzen. Schon der Vorstellungsraum war als ein räumlicher, zeitlicher und referentieller Rahmen zu denken, für den Textraum gilt dies in noch stärkerem Maße. Ich möchte daher dem Begriff des 'Verweisraums' zwei weitere zur Seite stellen, nämlich 'Kopräsenz' und 'geteilte Gegenwart'.

Bei Ehlich ist physische "Kopräsenz von Sprecher und Hörer" ein Charakteristikum von Sprechsituationen und "konstituiert einen (weitgehend) gemeinsamen Wahrnehmungsraum beider", von dem "für die Konstitution eines Zeigfeldes und die Verwendung deiktischer Ausdrücke" Gebrauch gemacht wird (Ehlich 2011c, 488). Zwar entwickelt Ehlich seinen Textbegriff genau ausgehend vom Befund eines Mangels an physischer Kopräsenz angesichts räumlicher und zeitlicher Distanz, doch gerade über die Verwendung (und das Gelingen) deiktischer Verweise lässt sich auch für eine Kopräsenz ohne geteilten Wahrnehmungsraum argumentieren. Für Ehlich impliziert Kopräsenz die Existenz eines geteilten Wahrnehmungsraumes, der wiederum ein Zeigfeld konstituiert, in dem deiktische Prozeduren gelingen können. Umgekehrt lassen gelingende deiktische Prozeduren, die es in (literarischen) Texten offensichtlich gibt, auf ein Zeigfeld und damit auch einen geteilten Verweisraum – im Falle des (literarischen) Textes: Vorstellungsraum und Textraum – schließen, in dem Kopräsenz möglich ist.9 Über diese Argumentationslinie kann das strukturelle Potential von Deixis voll ausgereizt werden, denn wenn Deixis in einem Wahrnehmungsraum mit (physischer) Kopräsenz zusammenhängt, kann auch Deixis in literarischen Texten Kopräsenz evozieren. Deixis basiert damit nicht nur auf einer geteilten Gegenwart, sondern schafft eine solche auch, und zwar indem sie sie voraussetzt.

Mit dem Präfix 'Ko' verweist der Begriff Kopräsenz bereits auf (mindestens) zwei Instanzen, für die die Bezeichnung 'geteilte Gegenwart' eine Handlung impliziert, nämlich das Teilen. Auch wenn 'teilen' eine gewisse Gleichberechtigung suggerieren mag, ist die Beziehung dieser Instanzen keinesfalls symmetrisch. Die Erzählinstanz als textseitige Origo schafft die Verweisräume erst, in denen sie mit einer rezeptionsseitigen Instanz kopräsent sein kann. Aber auch seitens der Leseinstanz wird eine Aktivität eingefordert, damit die Deixis gelingen kann, nämlich das (Nach-)Entwerfen des Verweisraums der Erzählinstanz. Ehlich unterscheidet dabei nicht zwischen verschiedenen Konzepten dieser Leseinstanzen, wie es seit dem Aufkommen des impliziten Lesers in der Nachfolge Wayne Booths und Wolfgang Isers üblich ist. Die eingeforderte Bereitschaft der Leser:innen ist auch eine Bereitschaft, sich "die Distanzüberwindung gefallen" zu lassen (Ehlich 2009, 73) – gefordert wird dies von den realen Leser:innen, denn seitens der impliziten Leser:innen wäre diese Bereitschaft vorauszusetzen.10 Ehlich spricht von der "Distanz zwischen Autor und Leser" – und zwar dem realen Leser –, die es deshalb zu überwinden gilt, um den Text als Handlung, also in einem pragmatischen Sinne verstehen zu können (Ehlich 2011a, 131), was auch für die Frage nach dem politischen Potential literarischer Texte von Relevanz ist. Ich möchte deiktische Prozeduren aber auch genereller als Verfahren eines Distanzmanagements verstehen: Deiktika selbst dienen bereits der Regulierung von Nähe (hier, jetzt) und Ferne (dort, damals) in Bezug auf die Origo. Durch die Verwendung von Deixis auf unterschiedlichen narrativen Ebenen, im Textraum und im Vorstellungsraum kann, so meine Hypothese, die Distanz der Leser:innen zum Text und zur Diegese reguliert werden.

In Rahmen seiner Analysen der deiktischen Prozeduren Eichendorffs kommt Ehlich zu dem Schluss, dass qua Deixis zwischen Text und Leser:in eine "Unmittelbarkeit" hergestellt wird – die, möchte ich ergänzen, stets eine vermittelte, nämlich literarisch produzierte Unmittelbarkeit ist. Sie ist Ehlich zufolge "Ausdruck einer Versetzung des Lesers in eine Welt": "[D]er Leser re-konstituiert in seiner eigenen Vorstellung die Eichendorffsche Landschaft als Vorstellung und findet sich darin vor", wodurch "eine Distanz beseitigt" sei (Ehlich 1985, 259, Hervorh. i.O.). Neben der Regulierung – in diesem Falle: der Minimierung – von Distanz, ist für meine nachfolgende Argumentation besonders der Begriff des 'Versetzens' relevant, auf den ich unten zurückkomme.

Deiktische Prozeduren organisieren nicht nur (Eindrücke von) Nähe und Ferne, sondern oszillieren auch zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit: Ohne Kontext sind Deiktika unkonkret und allgemein, erst in einem spezifischen Verweisraum werden sie zu besonders bestimmten und bestimmenden, weil indexikalischen Ausdrücken. Diese Gleichzeitigkeit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit hat im Falle der Personaldeixis mittels der Pronomen 'du' und 'ihr' ein besonderes Potential für Adressierungen im literarischen Text, die schon intensiv analysiert wurde.11 Ich möchte im Folgenden besonders nach Deixis und Adressierung als Faktoren für Identifikation fragen.

Im Diskurs über die Repräsentation und die Erfahrungen marginalisierter Personengruppen in der Literatur spielen Identität und Identifikation immer wieder zentrale Rollen. Mal wird davon ausgegangen, dass sich Leser:innen nur mit Figuren identifizieren können, die möglichst viele Identitätsmerkmale mit ihnen teilen. Aus dieser Perspektive wird die mangelnde oder negative Repräsentation spezifischer – beispielsweise queerer oder Schwarzer – Identitäten deshalb kritisiert, weil dadurch – beispielsweise queeren oder Schwarzen – Rezipient:innen weniger oder keine positiven Identifikationsangebote gemacht würden.12 Mal wird das Potential der Literatur gepriesen, gerade die Identifikation mit Figuren anderer Lebensrealitäten zu ermöglichen, indem sich Leser:innen einfühlen und Erfahrungen nachempfinden könnten.13 Mal wird Identifikation als Faktor für die Rezeption literarischer Texte generell kritisiert und problematisiert – oder literarische Texte, die auf Identifikation zielen, sowie Leser:innen, die Vorlieben für identifizierende Lektüren haben, werden abgewertet.14

Auf der Grundlage eines solchen Identifikationsbegriffs gelingt es zumeist nicht, die komplexen Identifikationsprozesse, die in Texten angelegt sind und von Leser:innen eingefordert werden, zu erfassen. Deshalb schlage ich im Folgenden eine alternative oder wenigstens ergänzende Perspektive auf Identifikation vor. Wenn im Kontext der Rezeption von literarischen Texten, aber auch von Filmen oder Serien, über Identifikation gesprochen wird, so wird darunter meist die Identifikation mit Figuren, meistens sogar der Hauptfigur verstanden. Ich möchte stattdessen das Identifikationspotential und -angebot einer Schwellenfigur in den Blick nehmen, die sich nicht nur in ihrer Position an der Grenze zwischen Diegese und Extradiegese, sondern auch durch immerhin eine zentrale Gemeinsamkeit mit den Rezipient:innen dafür besonders anbietet: nämlich die adressierte Instanz.

Mit einem besonderen Fall von Adressierung und Identifikation beschäftigt sich Irene Kacandes in ihrem viel beachteten und bereits 1993 veröffentlichten Artikel mit dem plakativen Titel "Are You in the Text?" (Kacandes 1993). Ausgehend von (postmodernen) Erzählungen, in denen die Leser:innen in der zweiten Person adressiert werden, fragt sie, unter welchen Bedingungen Leser:innen sich mit dem you des Texte identifizieren. Dabei hat sie ein besonderes Interesse an "literary performatives" (Kacandes 1993, 139), worunter sie jene Adressierungen versteht, die sich im Vollzug der Lektüre – also durch performative Leseakte, wie ich sie zuvor genannt habe – realisieren. Laut Kacandes ist die Identifikation der Leser:innen mit dem adressierten Du eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für ein gelingendes literary performative. Wie im Falle der Deixis aber lässt sich diese Abhängigkeit auch umkehren: literary performatives – also Adressierungen wie "You've read me this far, then?", ein von Kacandes aus John Barths Erzählband Lost in the Funhouse übernommenes Zitat, oder das bereits zitierte "Seid ihr noch da?" aus Drei Kameradinnen – fordern eine Identifikation ein, oder wenigstens eine Reflexion über die Identität von oder die Differenz zwischen realer und adressierter Leseinstanz.15

Ausgehend von ihrem zentralen Textbeispiel, Italo Calvinos für seine metaleptischen Leseradressierungen berühmten Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht, thematisiert Kacandes insbesondere die potentielle Geschlechterdifferenz zwischen realer und adressierter Leseinstanz. Dass sie den Fokus auf die Repräsentation von Geschlecht legt, liegt sicherlich daran, dass Geschlecht besonders stark schon auf grammatikalischer Ebene in Texte eingeschrieben ist. Kacandes zeigt das am Beispiel Calvinos für die italienische Sprache auf, die wie das Deutsche, aber anders als das Englische, unterschiedliche Wörter für den Leser und die Leserin kennt.16 Bei Kacandes steht, wie es häufig – so auch beispielsweise in Claudia Liebrands Beitrag "Als Frau Lesen?" (2010) – der Fall ist, die Geschlechtsidentität der realen und adressierten Leseinstanz im Zentrum. Sie spricht aber explizit auch weitere Identitätsmerkmale an und bezeichnet "race, social class or sexual preference" als "other features which might decrease the amount of identification" (Kacandes 1993, 148).17 An anderer Stelle erwähnt sie auch einen generellen "cultural frame of references", den die realen Leser:innen teilen oder nicht teilen können, "which might or might not alienate a given reader" (Kacandes 1993, 141).

Statt an den Begriff der alienation, der hier am ehesten als Entfremdung zu übersetzen wäre, mit Bertolt Brechts Verfremdungseffekten anzuschließen, stellt Kacandes die Differenz- und Fremdheitserfahrung in den Dienst einer postmodernen Verdopplung. Diejenigen Leser:innen, die einerseits durch Deixis und Adressierung zur Identifikation eingeladen, andererseits aber durch die skizzierten Differenzen von dieser Identifikation ausgeschlossen werden, sind laut Kacandes prädestiniert dafür, mit einem dem postmodernen Text angemessenen "Hyperbewusstsein" ("hyperconsciousness", Kacandes 1993, 148) zu lesen: "She [the alienated, (un)addressed reader, Anm. JN] is perhaps the most likely to recognize that you can be within the text and without simultaneously." (Kacandes 1993, 148)

Kacandes blickt an dieser Stelle aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive auf eine Verdopplung, die strukturell mit einer Verdopplung verwandt ist, die David Herman prominent unter dem Begriff double deixis verhandelt hat.18 Von Herman stammt auch der Begriff der 'Überlagerung' (superimposition), mit dem ich zur Frage nach einem Identifikationskonzept zurückkehren möchte, das verschiedenen Identitäten der Figuren, Adressat:innen und Leser:innen gerade in sogenannter Erfahrungsliteratur gerecht wird. Es besteht – nicht nur manchmal, sondern im Regelfall – keine Kongruenz zwischen der Identität der fiktiven Leseinstanz, also dem Du des Textes, und der Identität der realen Leser:innen, also dem Ich der Lektüre. Trotzdem muss der lose Faden des adressierenden Du seitens der Leser:innen aufgenommen werden, damit die Referenzen nicht ins Leere laufen. Für Adressierung als Spezialfall der Deixis gilt dabei wie für deiktische Prozeduren generell, dass für ihr Gelingen eine Bereitschaft zur Origo-Übernahme und zur Distanzüberwindung vorausgesetzt ist.

Der Fokus auf Deixis erlaubt es, die Identifikation mit der adressierten Leseinstanz nicht als einfühlendes Hineinversetzen, sondern als identifizierendes Versetzen zu verstehen.19 Der Akt der Identifikation ist dabei weniger als empathischer zu denken, als vielmehr in einem fast mathematischen Sinne zu verstehen: Adressiertes Du und lesendes Ich werden als Punkte in ihren jeweiligen Verweisräumen miteinander identifiziert – oder, mit Herman gesprochen, übereinandergelegt ('superimposed'), sodass Verweisräume gedoppelt bzw. überlagert werden und deiktische Prozeduren gelingen.

III. Identifikation und Distanz(management) in Drei Kameradinnen

Auch in Drei Kameradinnen werden die fiktiven adressierten Leser:innen nicht explizit entlang der Achsen race, class und gender charakterisiert. Obwohl sie diese Zuschreibungen immer wieder (ironisch oder unzuverlässig) bricht, zeichnet Kasih die Leser als weiße Deutschlehrer(kinder) und verwendet dabei das generische Maskulinum: Damit sind diese fiktiven Leser auf den ersten Blick weder Diskriminierung durch Rassismus (weiß) noch durch Klassismus (Lehrer(kind)) oder Sexismus (männlich) ausgesetzt. Zudem werden die Leser über spezifische Erfahrungen, oder vielmehr den Mangel spezifischer Erfahrungen, charakterisiert: "Ihr hattet ja auch mal Liebeskummer, ihr wisst, was ich durchmache" (245), schreibt Kasih beispielsweise, oder aber "Weil ihr keine Kindheit hattet, die so roch wie unsere." (26)

Reale Leser:innen werden mehr oder weniger Merkmale mit diesen fiktiven Lesern teilen. Dass ich mich als weiße Akademikerin hinsichtlich des Geschlechts von der adressierten Leseinstanz unterscheide, ist dabei eine geringe Abweichung, zumal in Drei Kameradinnen Rassismus und die Erfahrungen rassistisch marginalisierter Personen im Vordergrund stehen. Andere konkrete Leser:innen werden andere Übereinstimmungen und Differenzen zwischen sich und den adressierten Leser:innen ausmachen – dabei gilt: Je näher diese Leser:innen der Identität und den Erfahrungen Kasihs kommen, desto weniger Merkmale teilen sie mit den fiktiven Leser:innen, denn Kasih entwirft die fiktiven Leser geradezu als ihr Gegenteil.20 Diese Einteilung in ein Wir und ein Ihr wird dabei stets von Inklusions- und Exklusionsprozessen begleitet und zugleich konstituiert.

Unabhängig von diesen Übereinstimmungen und Differenzen verlangen die zahlreichen Adressierungen und Deiktika, wie im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigt, eine Identifikationsbereitschaft seitens der realen Leser:innen. Auch wenn Deixis und Adressierung dabei strukturell verwandt sind, lassen sich gerade an Drei Kameradinnen einige zentrale Unterschiede aufzeigen. Deiktische Prozeduren wie 'hier' und 'jetzt' verlangen eine Origo-Versetzung, also eine Identifikation der Zeigfelder, bei der sich die realen Leser:innen mit Kasih oder aber einer mit Kasih kopräsenten Instanz identifizieren können. Adressierungen und insbesondere sich in der Lektüre aktualisierende performative Leseakte implizieren eine Identifikation von realer und fiktiver Leseinstanz, im Zuge derer die implizite Leseinstanz übersprungen wird.

Die Adressierungen und auch die an Adressat:innen gerichteten deiktischen Prozeduren sind im Roman auf der metanarrativen Ebene angesiedelt. Kasihs Erzählsituation ist räumlich und zeitlich genau und ungenau zugleich definiert. Wie für Deiktika selbst bräuchte es eine Kontextualisierung, um ganz konkret zu werden: Das Hier wird nur über ein WG-Zimmer, ein gegenüberliegendes Yogastudio, einen Schreibtisch entworfen; um welche Stadt es sich handelt, bleibt offen; das Jetzt wird nicht kalendarisch datiert, dafür aber präzise zwischen "Freitagnacht, 2:28 Uhr" (9) und "Samstagmorgen, 5:58 Uhr" (343) aufgespannt. Es ist diese Raumzeit – und diese Metaebene – auf der Drei Kameradinnen eine Kopräsenz ermöglicht oder sogar einfordert. Insbesondere Textstellen, in denen zwischen dem Jetzt des Erzählens und dem Jetzt der Lektüre nicht genau unterschieden werden kann – so beispielsweise in der bereits zitierten Passage, in der Kasih sich dafür entschuldigt, dass die Leser:innen sich "das jetzt auch durchlesen" mussten (257) –, suggerieren eine latente Kongruenz von Erzählzeit und Lektürezeit, eine Gleichzeitigkeit oder kopräsentische Echtzeit.

Dass es gerade die metanarrative Ebene und nicht die Handlungsebene rund um die Ereignisse bis hin zu Sayas Verhaftung ist, auf der die adressierenden und deiktischen Prozeduren eine Kopräsenz implementieren, verstehe ich als bewusstes und doppeltes Distanzmanagement. Wie im Beispiel Eichendorffs werden Distanzen überwunden, aber nicht bis hin zur diegetischen Landschaft, sondern nur bis zur metanarrativen Schreibsituation, in der (und in die) die Adressat:innen Kasih folgen (müssen). Nicht nur Kasih blickt so mit einer gewissen Distanz auf die Ereignisse der vergangenen Tage, auch für die Leser:innen wird ein Abstand gewahrt. Diese Distanz hängt fundamental damit zusammen, dass es dem Text nicht um eine Identifikation mit Kasih, Saya, Hani oder anderen Figuren geht, die es erlauben würde, Erfahrungen 'nachzuerleben'. Stattdessen erfordern die Deiktika eine Identifikation mit der adressierten Instanz, die mit einer genau justierten Distanz auf einerseits Erfahrungen und Ereignisse und andererseits allgemeine Strukturen blicken kann.

In einer Passage wird in Drei Kameradinnen explizit die Macht der Distanzierung – sowohl der raumzeitlichen Distanz von einer Situation als auch die Distanzierung von der eigenen Perspektive – thematisiert. Dabei handelt es sich um eine Erfahrung, die Kasihs Freundin Saya in ihrer Jugend gemacht hat, als bei einem Fest von einer Tante ihres ersten Freundes an ihrer statt eine ähnlich junge weiße Frau – "lasst sie uns Lena nennen" (166) – für dessen Partnerin gehalten wird. Dieses Ereignis wurde von Saya als eine Art Urszene ihres Bewusstseins rassistischer Stereotypisierung immer wieder aufgebracht. Kasih gibt die Erzählung Sayas wieder und erklärt den Stellenwert dieser Erfahrung für die Freundin, schließt aber mit einer neuen Überlegung:

Nach all den Malen, die ich diese Geschichte hören musste, ahne ich jetzt erst, dass Lena, die in dieser Story nicht besonders gut wegkommt und noch nicht einmal einen echten Namen hat, die Geschichte sicher auch nicht vergessen hat. Dass Lena im Nachhinein ebenfalls mit Leuten sprach, um sich bestätigen zu lassen, dass sie sich völlig zu recht darüber geärgert hat, für Leos Freundin gehalten zu werden, obwohl sie doch genauso neben Alice, Leos Schwester, saß. Ich würde jetzt gerne Saya von diesem viel zu spät gefallenen Groschen erzählen, damit wir uns beide schämen können, Saya noch mal ein bisschen mehr als ich. Um uns erst für unsere Ignoranz zu schämen, uns dann wie unsensible Trampel zu fühlen und uns schließlich dafür zu schämen, die unsensiblen Trampel zu sein, die wir selbst so verachten. (171–72)

Eva Raschke, von der bisher der einzige Forschungsbeitrag zu Bazyars Roman vorgelegt wurde, macht in diesem Abschnitt eine Form der "Selbstdistanzierung" (Raschke 2021, 503) aus. Genauer noch kann hier jedoch von einer Strategie des Distanzmanagements gesprochen werden, bei dem Deixis, Identifikation und Fiktion zentrale Faktoren sind. Im ersten Satz des Zitats wird mittels einer deiktischen Prozedur, 'erst jetzt', ein großer zeitlicher Abstand zwischen der ersten Erzählsituation, in der Saya ihre Erfahrung mit den Freundinnen teilt, und der zweiten Erzählsituation, in der Kasih ihren Text verfasst, etabliert. Diese zeitliche Distanz ist zwar eigentlich zu groß – der Groschen fällt 'zu spät' –, aber womöglich notwendig, um die Situation aus Lenas Perspektive zu imaginieren.

Kasih bezeichnet Sayas und ihr eigenes Verhalten im Rückblick als ignorant und unsensibel. Die Sensibilität, die sie sich von sich selbst in Bezug auf Lena erwartet hätte, ist verwandt, aber nicht äquivalent mit Empathie oder Einfühlung. Stattdessen handelt es sich bei Kasihs Gedankengang um eine versetzende Identifikation, bei der sie die Situation von Lenas Sitzplatz an der Festtafel aus nachzuvollziehen versucht, sie identifiziert ihren Standpunkt mit dem Mittelpunkt von Lenas Zeigfeld. Der Modus schließlich, in dem diese Identifikation gelingen kann, ist die Fiktion und Metanarration, ein Modus gedoppelter Vermittlung: Kasih stellt sich vor, wie eine Person, die sie selbst nur aus einer 'Story' Sayas, kennt, diese 'Geschichte' noch einmal neu perspektiviert – und betont dabei, nicht zuletzt mit den von mir hervorgehobenen Ausdrücken, den Prozess des Erzählens (und Erzählen-Lassens) für Erkenntnisgewinn. Zeitlicher Abstand, Sensibilität, doppelte Vermittlung: Hier wird Distanz zunächst vergrößert, dann verringert, und schließlich wieder gesteigert – Nähe und Distanz werden in ein oszillierendes Wechselverhältnis gebracht.

Auch die Unzuverlässigkeit von Kasihs Erzählen kann als Strategie des Distanzmanagements gelten. Wenn Kasih in einem Atemzug bzw. einem Satz zuerst fragt, warum die Leser:innen ihr "eigentlich geglaubt" haben, wenn sie doch "die ganze Zeit skeptisch" waren, und dann nachhakt, wieso sie ihr "gegenüber eigentlich skeptisch" waren (346), reguliert sie Vermittlung(sbewusstsein) und Distanz. Gegen Ende des Romans offenbart Kasih nicht nur, dass sie einige Fakten und Ereignisse auf der Handlungsebene modifiziert hat; schlussendlich lässt die unzuverlässige Erzählerin sogar Handlungs- und Erzählebene ineinander kollabieren. Sie dreht die Zeit zurück und erklärt, dass sie, statt am frühen Samstagmorgen allein an ihrem Schreibtisch zu sitzen, den Text Donnerstagnacht neben der schlafenden Saya schreibt. Es handelt sich um eine unzuverlässige, verschachtelte Konstruktion der Erzählebenen, die nicht nach einer Auflösung – nicht nach einfachen Antworten – verlangt. Vielmehr dient sie dazu, Unmittelbarkeit zu destabilisieren und klare Positionierungen zu verhindern.21

Einen besonderen Status hinsichtlich der Unzuverlässigkeit haben die Referenzen auf den Prozess gegen die rechten Terroristen und den "Jahrhundertbrand", die bis ganz zuletzt und nach dem Kollaps der Erzählebenen eine zentrale Rolle spielen. Beide Ereignisse sind fiktional, beide Ereignisse haben aber Referenzpunkte in der jüngeren Geschichte Deutschlands: Die "Mörder-Nazis" sind eindeutig am NSU-Komplex angelehnt, der verheerende Hausbrand und seine insbesondere migrantischen Todesopfer verweisen auf Brandanschläge in Sammelunterkünften für Geflüchtete seit 2015 und noch offensichtlicher auf die rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 sowie den Brandanschlag in Solingen im Mai 1993.22 Aus Fiktionalität einerseits und Unzuverlässigkeit andererseits werden damit brutale Fakten über die deutsche Gegenwart, die sich Kasih und die adressierte Leseinstanz, Shida Bazyar und die realen Leser:innen teilen – die prekäre Kopräsenz in Kasihs WG-Zimmer schlägt um in eine reale Kopräsenz.

IV. Fazit

Mein hier verfolgter Blick auf Drei Kameradinnen war auf Deixis, Adressierung und einen daran orientierten Identifikationsbegriff fokussiert. Bazyars Roman diente mir gleichermaßen als inspirierender Ausgangspunkt einer Reflexion über deiktische und identifizierende Prozesse und als Illustration meiner Überlegungen über Kopräsenz und Identifikation. Die Passage, in der Kasih über die (potentiellen) Erfahrungen von 'Lena' sondiert, habe ich besonders hervorgehoben, weil sich an ihr – gewissermaßen als pars pro toto – die distanzierenden und vermittelnden Strategien des Romans kristallisieren und sie zugleich explizit reflektiert werden. Es ist allerdings weniger eine Bewegung vom Einzelnen zum Ganzen, sondern vom Besonderen zum Allgemeinen, die ich abschließend vollziehen möchte. Diese Oszillation von Besonderem und Allgemeinem, zwischen Konkretem und Abstraktem liegt bereits in der Natur der Deixis: Ohne Kontext sind Deiktika allgemein, aber auch bedeutungslos, erst in einem konkreten Zusammenhang erlangen sie Bedeutung. Ausgehend von diesem Potential der Deixis, einen Transfer zwischen Konkretem und Abstraktem zu leisten, lässt sich auch die Gleichzeitigkeit von Besonderem und Allgemeinem in Drei Kameradinnen erschließen: Die im Roman geschilderten rassistischen Erfahrungen und Übergriffe verweisen trotz ihrer Fiktivität deutlich auf strukturelle Gewalt und stellen damit zugleich unscharfe und offensichtliche Referenzen dar.

Zwischen Besonderem und Allgemeinem bewegen sich auch meine Beobachtungen: Ich habe sie an einem spezifischen Text entlang erarbeitet, indem ich – auf 'hier' und 'dort' verweisend – Textstellen aus einem Roman zitiert habe, in dem deiktische Prozeduren und Adressierungen der Leseinstanz gehäuft und explizit eingesetzt werden. Doch Deixis und Adressierung tauchen, wenn auch meist subtiler oder impliziter, in jedem literarischen Text auf, in Form von Lokal-, Temporal- und Personaldeiktika, Adressat:innen als reale und implizite Leser:innen. Beide hier im Einzelnen betrachteten Verfahren sind also für Literatur im Allgemeinen relevant, insbesondere (aber nicht nur) wenn Fragen nach Identität und Identifikation, nach Inklusion und Exklusion verhandelt werden.23 Deshalb möchte ich, in einer abschließenden Argumentationsbewegung, die mich wieder vom Primärtext wegführt, die drei zentralen Ergebnisse meiner Untersuchung zusammenfassen.

Erstens können Deixis und Adressierung in den Dienst eines, wie ich es genannt habe, Distanzmanagements gestellt werden. Deiktika, vor allem Lokal- und Temporaldeiktika, skalieren stets Distanzen, navigieren zwischen Nähe und Ferne auf unterschiedlichen diegetischen Ebenen. Adressierungen und die dabei entworfene Identität der adressierten Instanz machen Inklusions- und Exklusionsbewegungen sichtbar. Damit meine ich nicht in erster Linie das Ein- oder Ausschließen der konkreten Leser:innen in den Adressat:innen-Kreis des Textes, indem die Identität der Leseinstanz konturiert wird – diese Inklusions- und Exklusionsprozesse werden zwar sichtbar gemacht, aber schließlich durch die Identifikation als Adressat:innen unterlaufen. Stattdessen werden die Leser:innen einerseits in den Text 'integriert' und andererseits durch die Adressierung als Leser:innen, mithin als dem Text externe Instanzen aus dem Text ausgeschlossen – mit Kacandes gesprochen sind die so adressierten Leser:innen "within the text and without simultaneously" (Kacandes 1993, 148). Diese Simultanität lässt sich auch auf die Modellierung der Leseinstanz übertragen: Fiktive und reale Leser:innen werden mithin übereinander geschoben.

Sowohl Deixis als auch Adressierung verlangen zweitens, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, eine Identifikation, nämlich einerseits ein Versetzen in das Zeigfeld, damit die deiktische Prozedur gelingen kann, und andererseits eine überlagernde Identifikation mit der adressierten Instanz. Das Verhältnis dieser Identifikation zu den jeweiligen Identitäten der fiktiven, impliziten oder realen Leser:innen scheint komplex, muss dies aber nicht sein. Natürlich haben all diese Leseinstanzen bezogen auf race, class und gender, aber auch hinsichtlich ihres Wissens, ihres Begehrens und ihrer kulturellen Referenzen spezifische Identitäten und natürlich stimmt die Identität der realen Leseinstanz mit der adressierten Leseinstanz eigentlich nie überein. Dies schließt aber keinesfalls aus, dass Lektüre und damit auch Identifikation möglich ist. Da es sich um eine versetzende Identifikation mit Instanzen (oder Origines) – und nicht um eine hineinversetzende Identifikation mit Figuren und Charakteren – handelt, muss dabei nicht eine andere Identität angenommen werden, wohl aber eine Bereitschaft zur Distanzierung von der eigenen Identität als reale:r Leser:in vorhanden sein – oder, mit Theodor W. Adorno gesprochen, eine Bereitschaft "zum Kunstwerk sich [zu] entäußern" und "es von sich aus [zu] vollziehen".24

Drittens etablieren Deixis und Adressierungen eine Kopräsenz von adressierender und adressierter Instanz. Diese Kopräsenz im Sinne einer geteilten Gegenwart ist Bedingung der Möglichkeit deiktischer Prozeduren und Adressierungen. Indem literarische Texte in Ermangelung tatsächlicher Kopräsenz eben diese Verfahren einsetzen, schaffen sie – gewissermaßen rückwirkend – eine Sphäre der Kopräsenz. Diese geteilte Gegenwart ist immer auch eine gesellschaftliche und politische – das hat sich an den Realitätsreferenzen in Drei Kameradinnen besonders deutlich gezeigt. Damit schließt sich der Kreis zurück zum ursprünglichen Charakter von Deixis und Adressierung: Deiktische Ausdrücke und adressierende Sprechakte sind im linguistischen wie im alltagssprachlichen Sinne pragmatisch – sie sind durch Kontextabhängigkeit und Wirkungsabsicht gekennzeichnet, und sie können durch die eingeforderte Wirkung einen Kontext bieten, zum Beispiel, indem man das Internet benutzt und "nochmal ganz kurz [recherchiert], in welchem verdammten Land [man] lebt" (84).

Notes

  1. Für eine bessere Lesbarkeit zitiere ich aus Bazyars Roman mittels Seitenzahlen in Klammern. [^]
  2. Feßmann nennt als weitere Vertreterinnen dieser literarischen Strömung die Autorinnen Sharon Dodua Otoo, Hengameh Yaghoobifarah, Olivia Wenzel, Deniz Ohde und Mithu Sanyal. [^]
  3. Für meine Überlegungen zum Verlaufscharakter des literarischen Texts orientiere ich mich grob an Andrea Polascheggs Studie Der Anfang des Ganzen (2020). [^]
  4. Die Formulierung "ihr aufmerksamen Leser" spielt zugleich ironisierend auf die zahlreichen 'geneigten', 'günstigen' oder 'vielgeliebten' Leser der Literaturgeschichte an. Vgl. dazu z.B. Barbara Ellings Studie über Leserintegration im Werk E.T.A. Hoffmanns (1973). [^]
  5. Der Begriff des performativen Leseakts, auf den ich im Abschnitt II noch ausführlicher eingehe, ist orientiert an John Austins Sprechakttheorie; an anderer Stelle (Niehaus 2023, 313) habe ich bereits performative Schriftakte diskutiert, die – wie performative Leseakte – im Vollzug der Schrift ihre Bedeutung aktualisieren. [^]
  6. Für dieses Verständnis der phatischen Kommunikationsfunktion orientiere ich mich an Roman Jakobsons Funktionsmodell der Kommunikation (Jakobson 2007 [1960], 166). [^]
  7. Neben Ehlichs eigenen Arbeiten sind, wie er selbst konstatiert, insbesondere Käte Hamburgers Ausführungen zu Deixis in Logik der Dichtung (1957) einschlägige Referenzen für die Forschung zu Deixis und Literatur (Ehlich 2009, 67). [^]
  8. Auch Ehlich verwendet den Ausdruck discourse deixis, allerdings für den Rederaum und nicht den Textraum (Ehlich 2011b, 169); ich orientiere mich hier an dem Gebrauch bei Macrae, der meines Erachtens auch deshalb besonders gut für die Beschreibung metanarrativer Kommentare geeignet ist, weil damit Deixis auf der Ebene des discours gegenüber den deiktischen Prozeduren in der Diegese, also auf der Ebene der histoire, erfasst werden kann. [^]
  9. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich bei Andrea Polaschegg (2019, 291). [^]
  10. Einen prägnanten Überblick über die Forschung zu Leseinstanzen – den impliziten, realen und, für den hier diskutierten Roman besonders relevant, fiktiven Leser:innen – bietet Dorothee Birke (2018). [^]
  11. Aus der jüngeren Forschungsliteratur nenne ich hier nur exemplarisch Sandrine Sorlins Monographie The Stylistics of 'You' (2021), einen Artikel von Evi Zemanek über "Das suggestive Du" (2011) und Emmanuelle Prak-Derringtons Forschungsbeiträge zu Personalpronomen (2007; 2017). [^]
  12. Über die Fragen nach Identifikation hinaus perpetuiert negative Repräsentation natürlich zudem den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft. Repräsentation als Faktor sowohl für Identifikation als auch für die Kontinuität rassistischer Stereotype spielt eine zentrale Rolle in den für die critical race theory maßgeblichen Texten von Stuart Hall (z.B. Hall 1997). [^]
  13. Ein Beispiel für diese Argumentation findet sich etwa in Feßmanns eingangs zitierter Rezension, wo es heißt: "Sie [die Literatur, Anm. JN] kann das vielleicht sogar besonders gut, weil sie nicht nur Daten und zeithistorische Fakten erschließt, sondern Innenwelten, Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste. Sie weckt Empathie, zumindest, wenn sie nicht nur reines Sprachspiel oder avantgardistisches Experiment sein will." (Feßmann 2021) [^]
  14. In diese Richtung weisen beispielsweise einige der fast polemischen Aussagen – "das ist es, was man im Neuen Midcult lesen, womit man sich identifizieren will" – in Moritz Baßlers viel diskutiertem Text "Der neue Midcult" (Baßler 2021). [^]
  15. Bemerkenswerterweise geht Kacandes in ihrem Beitrag nicht dezidiert auf die unterschiedlichen Modellierungen der Leseinstanz ein, das Konzept des impliziten Leser findet bei ihr keine Erwähnung. [^]
  16. Ein Umstand, mit dem auch ich mich für den vorliegenden Text auseinandersetzen musste, und den ich zumeist durch den etwas umständlichen Ausdruck Leseinstanz zu umgehen versucht habe, der sich an dem Ausdruck Erzählinstanz orientiert. [^]
  17. Kacandes selbst legt hier einen sehr unterkomplexen Identifikationsbegriff an, bei dem sich Identifikation scheinbar proportional zu den von Leser:in und Figur geteilten Identitätsmerkmalen verhält und darüber quantifizieren oder skalieren ließe; zwar würde auch ich behaupten, dass Identifikation auf einem Kontinuum verläuft, jedoch nicht in Abhängigkeit von den übereinstimmenden Merkmalen, sondern reguliert über literarische und sprachliche Verfahren. [^]
  18. "Doubly deictic you ambiguates virtualized and actualized discourse referents or rather superimposes the deictic roles of nonparticipants and participants in the discourse […]." (Herman 1994, 392) Der Begriff findet in der anglophonen Literatur- aber auch Film- und Medienwissenschaft rege Anwendung (vgl. z.B. Sorlin 2021), in der deutschsprachigen Forschungsliteratur hat er interessanterweise kaum Verbreitung gefunden. [^]
  19. Die Kritik an oder Abkehr von einer auf Einfühlung basierenden (Rezeptions-)Ästhetik hat natürlich eine lange Geschichte, die einen Höhepunkt sicherlich in Bertolt Brechts epischem Theater gefunden hat, in dem "dem Zuschauer die Haltung der Einfühlung, die Neigung zur Identifikation und zum rechtfertigenden Verstehen verwehrt werden sollte" (Fontius 2001, 139, hier auch eine ausführlichere Darstellung von Einfühlung, auch mit Blick auf Empathie und Identifikation). [^]
  20. Diesen Prozess könnte man, wie Silke Horstkotte es in einem Vortrag über Drei Kameradinnen an der Leuphana Universität Lüneburg (23.11.2022) nahegelegt hat, als "reverse othering" bezeichnen; ein Ausdruck, der den u.a. von Gayatri Chakravorty Spivak eingeführten Begriff des otherings entlang der Perspektive der marginalisierten und diskriminierten Gruppe umkehrt. [^]
  21. Zum destabilisierenden Potential wechselnder Personaldeixis, insbesondere im Kontext postkolonialer Schreibweisen, vgl. auch Macrae (2018, 55). [^]
  22. Der Prozess gegen den NSU von 2013 bis 2018 war der größte und teuerste Prozess Nachwendedeutschlands. Auch dadurch wird ein klarer Bezug zum NSU hergestellt, wenn Kasih schreibt: "Es wird der größte Prozess seit Gründung der Bundesrepublik" (345); von dem Brand schreibt sie als "dem größten in der Nachkriegszeit" (349), als Referenz sind die Anschläge auf das Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, die "als die massivsten rassistischen Ausschreitungen oder gar das größte Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte" gelten (Prenzel 2017), und die Brandstiftung am Haus der Solinger Familie Genç, "der bis zu diesem Zeitpunkt folgenschwerste rassistische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik" (Bundeszentrale für politische Bildung 2023), naheliegend. [^]
  23. Man könnte sogar eine chiastische Strukturähnlichkeit zwischen Deixis und Dichtung annehmen: Während Deiktika als abstrakte Begriffe nur im konkreten Kontext Bedeutung erlangen, ist es umgekehrt das seit Aristoteles postulierte Potential der Literatur im Exemplarischen und Konkreten (Figuren und Situationen) allgemeine und abstrakte Einsichten zu veranschaulichen. [^]
  24. Für Adorno "verlangt auch das authentische Verhältnis zum Kunstwerk einen Akt der Identifikation", allerdings muss sich der Rezipient dabei dem Kunstwerk gleichmachen und darf nicht, "was in ihm vorgeht, aufs Kunstwerk projizieren, um darin sich bestätigt, überhöht, befriedigt zu finden"; es sei, kritisiert Adorno eine solche identifikatorische Rezeption, ein "Schulfall von Banausie […], wenn ein Leser sein Verhältnis zu Kunstwerken danach reguliert, ob er mit darin vorkommenden Personen sich identifizieren kann" (Adorno 1970, 409). [^]

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