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Research

Jenseits der Identität: Radikaler Realismus in Fiston Mwanza Mujilas Tram 83

Author: Sebastian Schuller

  • Jenseits der Identität: Radikaler Realismus in Fiston Mwanza Mujilas Tram 83

    Research

    Jenseits der Identität: Radikaler Realismus in Fiston Mwanza Mujilas Tram 83

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Abstract

German literary critique reads the work of the Congolese author Fiston Mwanza Mujila through the lenses of his national identity. My paper will demonstrate that, the opposite, Mujila subverts and deconstructs the category of 'Africaness' or identity, narrating a world where the global dimension of late capitalism has inscribed itself into the very fabric of social life. Yet, in doing so, Mujila does not simply negate identity, but develops a new and radical politics of representation. By using a radical realism in a double sense, Mujila mediates the categories of the abstract global (the real abstraction of capital) and the concrete moment of identity. In this regime of representation, the experience of identity is always also the experience of the structural violence of capitalism. By approaching identity through the perspective of capital and dissecting capitalism through the lenses of identity, Mujila, I claim, rejuvenates the ideas of social realism.

Keywords: globalisation, feminism, marxist literary critique, black austrian studies, Fiston Mwanza Mujila, identity politics

How to Cite: Schuller, Sebastian. "Jenseits der Identität: Radikaler Realismus in Fiston Mwanza Mujilas Tram 83." Genealogy+Critique 10, no. 1 (2024): 1–22. DOI: https://doi.org/10.16995/gc.10755

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Published on
2024-03-15

Peer Reviewed

Identität ist gegenwärtig ein außerordentlich kontrovers diskutiertes Konzept, welches eine breite Palette von Emotionen und Widerständen auslöst. Aktivist:innen, die sich als Vertreter:innen marginalisierter Gruppen verstehen, haben weltweit Graswurzelbewegungen ins Leben gerufen, die auf gemeinsamen Erfahrungen basieren und das Potenzial besitzen, etablierte gesellschaftliche Strukturen zu destabilisieren. Jedoch löst eine solche Organisierung des Politischen entlang der Trennlinien der Identität wieder Kritik aus. Der marxistische Denker Walter Benn Michaels etwa wirft der sogenannten identity politics vor, letztlich eine Form neoliberaler Ideologiebildung zu sein (Michaels 2010, 4–7).

Zur Kategorie und zum Problem theoretischer Auseinandersetzungen wird Identität seit den 1970er Jahren: Im Zuge zunehmender Individualisierungsprozesse und des Zusammenbruchs von tradierten Bedeutungszusammenhängen in der Globalisierung kommt der Identität eine Schlüsselfunktion bei der Stabilisierung des Individuums in einer unsicher gewordenen symbolischen Ordnung zu (Beck 2003, 102). Diese soziologische Beobachtung trifft sich mit der Differenzierung des Begriffs, die Hartmut Rosa vorschlägt. Demnach muss zwischen traditionellen, klassischen und situativen Identitäten unterschieden werden (Rosa 2005, 354). Während traditionelle und klassische Identität letztlich soziale Konstruktionen darstellen, geht Rosa davon aus, dass Identität in der Gegenwart zunehmend zum Ausdruck eines relationalen (situativen) Selbstbildes wird. Die persönliche Identität wird temporalisiert, sie unterliegt der kontextabhängigen Wahl und Performanz des Individuums, das diese stets neu aushandelt (Rosa 2005, 363–64).

Literatur bietet in diesem Zusammenhang einen Raum an, in dem diese Aushandlungen stattfinden können. Identität kann narrativ an Figuren dar- und so hergestellt, semantische Codes bestimmter Identitäten können erforscht, verarbeitet und verändert werden. Literatur kann zugleich als Archiv fungieren, in dem in archäologischer Arbeit Identitäten und Identitätspartikel erinnert und so sichtbar werden. Gegenwärtig lässt sich beobachten, dass Autor:innen wie etwa Zadie Smith oder Hengameh Yaghoobifarah in ihren Werken nicht nur Identität(en) verarbeiten, sondern ihre persönliche Identität zu einer Grundlage des Schreibens selbst wird. Die soziale oder, mit Rosa, performative Kategorie der Identität wird so zu einer literarischen Kategorie, und diese bestimmt zunehmend auch die Rezeption von Literatur.

Paradigmatisch für diese Entwicklung steht die Rezeption des Debütromans von Fiston Mwanza Mujila, Tram 83 (2013), der 2015 ins Deutsche übersetzt wurde. Die deutschsprachige Kritik betrachtete Tram 83 ausschließlich in Bezug auf die Herkunft des Autors, seine Identität wurde zum Vehikel für das Textverständnis (Schuller 2021, 189–90). Dies ist umso überraschender, als der Roman des kongolesischen Autors gerade nicht die eigenen Erfahrungen als Ausgangspunkt für die Erzählungen nimmt und auch seine Figuren – Subalterne in einer namenlosen Minenstadt im Inneren Afrikas – gerade nicht durch die Linse subalterner oder marginalisierter Identitäten betrachtet. Stattdessen schlägt Mujila in seinem Erstlingsroman, so die These dieses Aufsatzes, eine alternative Form von Identität vor. Identität ist in diesem Roman der Erfahrungsraum der Globalität des Kapitalismus selbst. Weder wird die Kategorie der Identität dadurch negiert, etwa zugunsten einer universalen politischen Erzählung, noch absolut gesetzt. Stattdessen wird im Identitären das Jenseits der Identität in unserer Gegenwart herausgearbeitet.

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind jene identitären Zuschreibungen, denen Mujilas Roman ausgesetzt ist. Es zeigt sich hier die Logik dessen, was in Anlehnung an Fredric Jameson als 'Nationale Allegorie' bezeichnet werden könnte, also eine Lektüre, die den Text nur nach der Herkunft des:der Autor:in beurteilt. Dieses Konzept, obwohl mehr als dreißig Jahre alt, kann eine kritische Auseinandersetzung mit Tendenzen in der Gegenwartsliteratur befördern, da Jameson, quasi antizipatorisch, Identität zur zentralen Kategorie des Literarischen erhebt. Mujila selbst parodiert diese Form der Auseinandersetzung mit Literatur. Tram 83 entzieht sich gerade allen nationalen Versuchungen und konstituiert einen literarischen Erfahrungsraum der Globalisierung. Im Folgenden werde ich zeigen, wie der Roman anhand der Darstellung seiner Figuren Identität konstruiert. Grundlage dieser Untersuchung sind aktuelle psychoanalytische Theoreme und Überlegungen des (Post-)Marxismus. Zentral ist dabei der Begriff des kapitalistischen Realismus: Von Mark Fisher geprägt, verwies dieser Begriff ursprünglich auf die Imagination der Alternativlosigkeit im gegenwärtigen Spätkapitalismus (Fisher 2009, 5–7). Zu dieser gesellschaftspolitischen Dimension kommt eine ästhetische hinzu: Unter den Bedingungen des Spätkapitalismus wird das Kapital selbst zu einer ästhetischen Kategorie und schreibt sich ins Literarische ein. Es entsteht so eine regelrechte kapitalistisch-realistische Literatur (Schuller 2021, 300–11). Mujilas Roman exekutiert diesen kapitalistischen Realismus und konkretisiert die Immanenz des Verwertungstriebs des Kapitals, die in der innerdiegetischen Welt absolut gesetzt ist. Dieser Kapital-Absolutismus bedeutet aber nicht, dass an Identität gebundene Erfahrungen gegenüber der Herrschaft des globalen Marktes nivelliert werden. Mujila macht viel eher deutlich, dass sich im Partikularraum individueller, identitärer Erfahrungen die Strukturlogik des Kapitals materialisiert. In gewisser Weise schildert Mujila die Welt aus dem Blickwinkel des Kapitals, als ein Multiplex unterschiedlicher Bewegungen, in dem sich immer wieder im Partikularen – der Identität – die Realabstraktion der Kapitalbewegung konkretisiert. Damit begründet er einen neuen, radikalen sozialen Realismus, der Identität nicht negiert, sondern ausgehend von einem 'Jenseits der Identität' die Frage nach globaler Subjektivität stellt.

1. Globalisierter Erfahrungsraum statt nationaler Allegorie

Tram 83 schildert die Erlebnisse des mittellosen Schriftstellers Lucien in einer Minenstadt im Inneren Afrikas, die im Roman stets Ville-Pays, Stadtstaat, genannt wird. Lucien, der ein "afrikanisches Bühnen-Epos, das dieses Land aus einer historischen Perspektive beleuchtet" (Mujila 2015, 49), schreiben will, wird von seinem alten Freund (und Nebenbuhler) Requiem eingeladen, in die Stadt zu ziehen und mit ihm in einer WG zu wohnen. Gestalterisch böte sich dem Roman nun ein einfacher Weg, den auch die Romane des Identity Booms der jüngsten Gegenwart häufig beschreiten: Identitätskonstitution durch Autofiktion. Autofiktion ist die "Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten" (Doubrovsky 2008, 123), sie stellt also an die Lesenden den Anspruch, gleichzeitig die Kohärenz zwischen Narrativ und Autor und dessen Fiktionalität anzuerkennen (Gronemann 2002, 53). Gerade darum stellt die Autofiktion ein ideales Medium zur Aushandlung von situativen Identitäten dar, da in ihr im Raum der Fiktion die Identitätskonstruktion eines Autor:innen-Ich performiert werden kann (Lörincz 2012, 166).

In Tram 83 finden wir gerade keine autofiktionalen Elemente. Nicht nur wird keine Identität zwischen Autor und Figuren durch etwaige Namensgleichheit hergestellt (Tram 83 wird aus Perspektive von Lucien und Requiem erzählt), sondern der Roman bricht auch mit jeder Verortbarkeit. Sicher, der Schauplatz der Handlung ist im Inneren Afrikas, doch die Stadt selbst bleibt namenlos, ihre Geschichte vage, ihr Regierungssystem unbestimmt. Es handelt sich hier also nicht um ein romanhaftes Archiv der Erinnerungen des Autors an seine Heimat in der Demokratischen Republik Kongo und erst recht nicht um eine fiktionale Verarbeitung von Zeitgeschichte. Gesellschaftliche Ereignisse, etwa Unruhen oder Hungersnöte, kommen im Roman nur am Rande vor und werden nicht weiter diskutiert. Sie stellen allenfalls einen undeutlichen Hintergrund der Erzählung dar, die ihrerseits keine identitäre Kohärenz zulässt. Episodenhaft verfolgt Tram 83 Luciens Versuche, sein Auskommen in Ville-Pays und einen Verleger für sein Bühnenepos zu finden. Die einzelnen Episoden sind nicht in sich kohärent, sondern von einem regelrecht polyphonen Stimmengewirr durchzogen: Luciens Notizen, Bibelverse, Anbahnungsgespräche von Prostituierten, Beleidigungen von Barbesuchern, Beschreibungen guter Tanzmusik. Der Text hat so Züge einer Collage, in der die radikale Gegenwart verschiedener Stimmen und Situationen durchexerziert wird, ohne dass sich diese zu einer einheitlichen, identitären Erzählung oder gar einer autofiktionalen Durcharbeitung einer Identitätskonstruktion zusammenfügen.

Lucien selbst liefert dabei die Perspektive, durch die dieses gesellschaftliche Panorama des von kolonialer Vergangenheit und kapitalistischem Exktraktivismus geprägten 'Stadtstaates' betrachtbar wird. Er gerät unter Verbrecher:innen, steigt illegal in Minen ein, feiert mit den Agent:innen westlicher Konzerne, fängt eine Beziehung mit einer Prostituierten an, landet im Foltergefängnis der Polizei usw. Was immer Lucien widerfährt, stets kehrt er in die titelgebende Bar "Tram 83" zurück, die ein gemeinsamer Fluchtpunkt aller gesellschaftlichen Gruppen in Ville-Pays ist. Ob kriminelle Halbwelt, ausländische Investor:innen, die Minenarbeiter:innenschaft oder Regimevertreter:innen – sie alle kommen hier zusammen, um zu feiern und das Leben zu genießen. Die Bar fungiert als Hauptort des Romans und als Linse, durch die Mujila die gesellschaftlichen Realitäten der fiktionalen Minenstadt Ville-Pays beobachten kann.

Die Literaturkritik nahm das Erstlingswerk Mujilas, das weltweit Erfolge erzielen konnte, zwar sehr wohlwollend auf, problematisierte aber immer wieder den Blick des Romans auf Frauen (Deckard 2019, 255). In der deutschen Tageszeitung TAZ bedachte die Redakteurin Nora Voit den Roman mit scharfen Worten:

"Tram 83" wäre ein atemberaubendes Debüt, wäre da nicht dieses eine Problem: Sexismus. Die gnadenlose Ausbeutung des weiblichen Körpers in einer männerdominierten Gesellschaft wird durch den Erzähler an keiner Stelle hinterfragt oder aufgebrochen. Gerade weil er aus einem Land kommt, in dem Frauen systematisch vergewaltigt werden, hätte man sich das gewünscht. (Voit 2017, 28)

Der Kommentar schneidet zwei Problemfelder an: An der Oberfläche wird die Frage nach der Repräsentation von Frauen in Mujilas Roman gestellt – eine Frage, der ich im Folgenden nachgehen werde. Diese Perspektive verbindet sich aber mit einer eigentümlichen Identifikationsbewegung. Voit spricht davon, dass die Auslassung einer weiblichen Perspektive umso schlimmer sei, als der Erzähler "aus einem Land kommt, in dem Frauen systematisch vergewaltigt" würden. Aus dieser Aussage lässt sich ableiten, dass für Voit die Grenze zwischen literarischer Erzählinstanz, intendiertem Autor und der realweltlichen Person Fiston Mwanza Mujila verschwindet. Der reale Autor wird mit der Erzählinstanz im Roman identifiziert. Stillschweigend setzt Voit damit voraus, dass der kongolesische Pass Mujila zu einer bestimmten Form der Darstellung, zu einem gewissermaßen ethischen Regime der Repräsentanz verpflichtet, das hier verfehlt werde. Erst durch die Herkunft des Autors wird für Voit der Roman les- und kritisierbar.

In der Lektüre, die Voit vorschlägt, lässt sich nicht mehr ohne Weiteres zwischen Darstellung, Dargestelltem und Autor unterscheiden. Qua Identität des Autors wird seine realweltliche Sprechposition – als männlich gelesene Person aus einem post-kolonialen Land Afrikas – zudem mit der Erzählung identifiziert. In dieser wird entsprechend der Lektüre eine bestimmte Perspektive auf die post-koloniale Wirklichkeit präsentiert, welche als politisch problematisch ("Sexismus") begriffen wird. Durch die doppelte Identifizierung in der Lektüre werden die Nationalität und das Geschlecht des Autors, seine persönliche Erfahrung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit,1 zur literarischen Kategorie. Zugleich wird der Text zum Ausdruck einer Identität.

Eine solche Lektürepraxis verdankt sich sicherlich dem gegenwärtigen 'Identitätsboom' in der Literatur, in der immer mehr weibliche, queere etc. Autor:innen ihre spezifischen Erfahrungen thematisieren. Diese Entwicklung, dass sich vermeintlich authentische Erfahrungswelten marginalisierter Gruppen in Form eines neuen sozialen Realismus in der Literatur ausdrücken, führt jedoch dazu, dass das Werk von Autor:innen, die marginalisierten Gruppen angehören, in der Literaturbetrachtung auf deren Identität zurückgeworfen wird. Dies ist auch im Falle Mujilas wiederholt geschehen. Dieser kann, beispielsweise in einem Interview mit dem ORF, mehrfach betonen, sein Roman beschreibe eine globale Realität und keine genuin 'afrikanische', um dennoch ausschließlich Fragen nach seinen kongolesischen Wurzeln, den sozio-ökonomischen Verhältnissen in Afrika und seinen Migrationserfahrungen gestellt zu bekommen (Motter 2017). Da der Autor kongolesischer Migrant in Österreich ist und ein Buch mit Handlungsort in einem (fiktionalisierten) Afrika und mit Schwarzen Hauptfiguren verfasst hat, wird dieses nur mehr über die Identität des Autors und als Ausdruck seiner Erfahrungen lesbar.

Überspitzt könnte mensch davon sprechen, dass in einer solchen Lektürepraxis das Konzept der National Allegory wiederkehrt, das der marxistische Literaturtheoretiker Fredric Jameson Ende der 1980er Jahre entwickelte. In einer Auseinandersetzung mit Texten des chinesischen Schriftstellers Lu Xun vertrat Jameson in einer Ausgabe des Journals Social Text die Ansicht, dass sich in Texten aus den Ländern der sogenannten Dritten Welt letztlich nur die nationale Identität ausdrückt (Jameson 1986, 70–73). Auch dann, wenn scheinbar nicht die nationale, post-koloniale Realität angesprochen wird, spricht sie sich dauernd selbst in einem solchen Text, er ist von vornherein durch den nationalen Boden, dem er scheinbar entstammt, festgeschrieben.

Jamesons Konzept erntete nach dem Erscheinen seines Artikels zu Lu Xun scharfe Kritik. Unter anderem wurde ihm vorgeworfen, er orientalisiere und exotisiere nicht-weiße Schriftsteller:innen aus der sogenannten Dritten Welt (Ahmad 1987, 4–8). Problematisiert wurde also, dass Jameson eine identitäre Kategorie (nämlich die Herkunft der:des Autor:in) mit dem Text selbst identifiziert, jener also nur noch durch diese gelesen wird. Das Konzept der National Allegory geht, so formulieren die Kritiken treffend, bei Autor:innen aus Ländern des globalen Südens (im Gegensatz zu solchen aus dem globalen Norden) stillschweigend von einem Kontinuum zwischen Text und realweltlicher Autorenperson aus. Eben jene Lektürepraxis der National Allegory kehrt in der gegenwärtigen Literaturkritik wieder: Die Identität von Autor und Text wird genau dann konstatiert, wenn diese von heteronormativen, westlichen Identitäten abweicht und in irgendeiner Form thematisiert wird. Weil Mujila ein post-koloniales, aber fiktionales 'Afrika' beschreibt, wird sein Roman automatisch und ausschließlich als realer Ausdruck einer realen, afrikanischen Realität beschrieben. Die National Allegory gerät implizit zum ethischen Prinzip des Lesens und Literaturverständnisses.

Im Grunde lässt sich Tram 83 als eine ironische Antwort auf diesen literarischen Essentialismus lesen. Die Rahmenhandlung des Romans ist der stete Versuch Luciens, sein Bühnenepos zu veröffentlichen, das ganz dezidiert eine nationale Allegorie sein möchte:

Über den Umweg der Literatur kann die Wahrheit wiederhergestellt werden. Ich möchte das Gedächtnis eines Landes, das nur auf dem Papier existiert, wieder zum Leben erwecken. Von Stadtland und Hinterland und ihrem wiedergefundenen kollektiven Gedächtnis träumen. (Mujila 2015, 50)

Ironischerweise ist es der europäische Verleger und Kapitalist Malingeau, der ihm dies auszureden versucht: "Das habe ich alles schon einmal gehört." (Mujila 2015, 50) Dennoch entscheidet sich Malingeau, Luciens Vorhaben zu unterstützen und organisiert eine Lesung in der Bar "Tram 83", die dann in einer eher handfesten Form der Literaturkritik endet: Das Publikum der Bar prügelt unter wüsten Beschimpfungen Lucien von der Bühne. Von überall schallt es: "Haut ihm auf die Fresse, damit er lernt, dass wir nicht zu seiner Unterhaltung hier sind." (Mujila 2015, 50)

Dies kann durchaus wörtlich verstanden werden. Die Besucher:innen der Bar weigern sich, Gegenstand der nationalen Allegorisierung zu sein, also mit einer ethnisch-nationalen Position und einem darauf aufbauenden Gesellschaftsentwurf identifiziert zu werden. Und mehr noch: Luciens Publikum erklärt dem Autor eindeutig: "Von dir lassen wir uns nichts erzählen!" (Mujila 2015, 65) Das Narrativ der nationalen Allegorie selbst wird nicht angenommen; Geschichten aus dem vermeintlich kollektiven Unterbewusstsein von Ville-Pays kommen hier nicht nur nicht an, sie sind gar nicht erwünscht. Die Anwesenden wollen lieber Hip-Hop hören als eine nationale Allegorie. So können Lucien und Malingeau – darin besteht der ironische Twist des Romans – das Bühnenepos gerade nicht in Afrika veröffentlichen, sondern in Paris, Hauptstadt der Kolonialmacht Frankreich, wo es sich aufgrund der Exotik verkaufen lässt. In Mujilas Afrika wird Luciens Erfolg folgend zwar gefeiert, doch löst die Veröffentlichung auch eine Reihe von Ereignissen aus, die den Autor am Ende des Romans zwingen, den nationalen Boden, der literarisch bearbeitet werden sollte, fluchtartig zu verlassen (Mujila 2015, 196–206).

Tram 83 erzählt auf diese Weise vom Scheitern der nationalen Allegorie und macht sich, quer durch den Text, über Luciens essentialisierende Schreibversuche lustig. Der Roman parodiert die nationale Allegorie und präsentiert sich gleichzeitig als ihr Gegenentwurf. Dies macht schon der Anfang des ersten Kapitels deutlich:

Im Anfang war der Stein, und der Stein schuf den Besitz und der Besitz den Rausch, und im Rausch kamen Menschen jedweder Gestalt, die schlugen Bahntrassen in den Fels, fertigten ein Leben aus Palmwein und erdachten zwischen Markt und Minen ein System. (Mujila 2015, 7)

Parodiert wird hier der Anfang des Johannesevangeliums, der eine Schöpfungsgeschichte erzählt: Am Anfang, der arché, wird hier der logos Jesus Christus positioniert, der die Schöpfung verantwortet und zum Heile der Schöpfung Mensch wird. Jedoch, an die Strukturstelle der Erlösungshandlung (also der Fleischwerdung des schöpferischen logos) wird bei Mujila der Verwertungstrieb des Kapitalismus gesetzt. Nicht der logos, sondern der Stein stellt die eigentliche arché von Tram 83 dar. Wie der logos aber von sich selbst abfällt und Mensch wird, bleibt der Stein nicht Stein, sondern fällt ebenfalls von sich ab. Allerdings ruft dieser Abfall nicht den Erlöser, sondern das Privateigentum hervor und macht damit das rauschhafte Streben nach dem Besitz zum bestimmenden Moment. Die arché der Stadt – in der Doppeldeutigkeit des altgriechischen Begriffs sowohl der Anfang und Anlass der Gründung von Ville-Pays durch Kolonialherren als auch das eigentlich beherrschende Prinzip des Lebens – ist der Wettbewerb; die Marktgesellschaft hat sich nicht nur in den Felsen eingegraben und den Naturraum umgestaltet, sondern ist zugleich selbst der Natur – dem Stein – immanent und in diesem Sinne selbst zur Naturkraft geworden.

Tram 83 beginnt somit mit einer doppelten Referenz auf das Globale und Abstrakte: Mit dem Zitat aus dem Johannesevangelium wird eine religiöse, im wahrsten Sinne universelle Dimension aufgerufen. Das Wirken des göttlichen logos ist nicht mit dem menschlichen Verstand zu begreifen und wird darum in abstrakten Termen geschildert, betrifft aber den gesamten Kosmos. Diese abstrakte Perspektive aufs Globale eignet sich der Roman an und wendet sie auf den Kapitalismus um. So wie der Wille Gottes in der religiösen Vorstellung die belebte und unbelebte Welt durchdringt, penetriert und strukturiert in Mujilas Version die extraktive Logik des Kapitals die Lebenswelt der anonymen Minenstadt. Das Ville-Pays, das Tram 83 schildert, sperrt sich so von Anfang an dagegen, Ausdruck einer spezifisch-afrikanischen Identität zu sein. Stattdessen wird es als Erfahrungsraum einer globalen Realität des gegenwärtigen Kapitalismus markiert. Statt um persönliche Erfahrungen oder nationale Allegorien geht es hier um die literarische Erfahrung einer Welt der Abstraktion, in der sich die Allgegenwart des Kapitals als Strukturprinzip auf die materielle Wirklichkeit ausgedehnt hat.

Mujila schließt damit an eine Tendenz der Gegenwartsliteratur an, die gerade durch die Darstellung von Metropolen die Lebenswelt des Neoliberalismus erfahrbar machen, wie Suman Gupta darlegt:

[T]hrough the literary peopling of such cities as London or New York in late twentieth- or twenty-first-century fiction, a super significance of these cities seems to make sense. They become more than their locations and boundaries and physical geographies: their populations flow over definitions and constitute a sort of world-in-itself. […] They offer boundaries of ethnic and racial conflict, of segregation and stratification, of marginality and centrality, only so that these are crisscrossed and interpreted even while being reified in the process. (Gupta 2009, 43)

Dass Städte zu Erfahrungsräumen der Welt selbst werden, hat freilich seinen Grund darin, dass sich die Funktion der Metropole in der Gegenwart verändert, wie Saskia Sassen in ihrer wegweisenden Untersuchung The Global City: New York, London, Tokyo (1991) darlegt. Im metropolitanen Kreuzungspunkt der Ströme aus Waren, Personen und Informationen agglomeriert sich Finanzkapital. In der Metropole wird Kontrollmacht über Ökonomien ausgeübt, da hier die Hauptsitze transnationaler Konzerne angesiedelt sind. Hier findet zugleich die Produktion spezialisierter Güter und Dienstleistungen sowie innovative Forschung statt (Sassen 1991, 3–5). Entsprechend wird durch diese Zentren die globale Gegenwart in ihrer ganzen Komplexität zugänglich, da sie hier gewissermaßen auf den Punkt gebracht ist, sei es in ökonomischer, wissenschaftlicher oder kultureller Hinsicht.

Eine solche Global City als Erfahrungsraum des globalen Kapitalismus muss nicht zwingend im globalen Norden liegen. Im Gegenteil, die sozio-ökonomischen Entwicklungen der letzten 50 Jahre lassen die Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie gerade erodieren. Wie Sassen zeigt, ist die Entstehung der Global Cities ein Effekt der gleichzeitigen Homogenisierung des weltweiten Marktes und seiner Ausdifferenzierung in spezialisierte, lokale Kreisläufe, deren Verbindung durch Standardisierung sichergestellt wird (Sassen 1991, 30–32). Eine Lokalisierung des Kapitalismus im Sinne seiner Essentialisierung und damit Identifizierung mit spezifischen lokalen Situationen verfehlt darum notwendig sein allgemeines Wesen. Zwar gibt es lokale Differenzierungen – konkrete, örtliche Erscheinungsformen –, doch drückt sich gerade in diesen lokalen Extensionen, im Partikularraum der Konkretion, die Globalität des Kapitalismus aus und konstituiert, wie wir mit Sassen sagen können, metropolitane Zentren.

Der Stadtstaat Ville-Pays ist in genau diesem Sinne eine globale Stadt, die nur zufällig im Inneren Afrikas liegt. Hier realisiert sich der Zugriff des globalen Kapitals auf den konkreten Erscheinungsraum: Der Stadtstaat ist nach den Bedürfnissen des Kapitals zugerichtet, in die Flows der Kapitalströme eingebunden und nicht zuletzt deren Knotenpunkt. Hier werden Geschäfte gemacht, die weltweit Auswirkungen haben. Es handelt sich nicht um einen peripheren oder halbperipheren Ort, sondern um ein Zentrum im globalen Markt, an dem von Drogen über Rohstoffe bis zu Aktien alles ununterbrochen gehandelt wird. Menschen aus aller Welt, Unternehmer:innen, Agent:innen von transnationalen Konzernen, Arbeiter:innen, Kriminelle, Kriegsverbrecher:innen usw. kommen hierher, um Geschäfte zu machen und um zu feiern. Es herrscht in Ville-Pays so einerseits ein extraktives, post-koloniales Regime, andererseits aber eine kosmopolitische Atmosphäre, die im Mikrokosmos der Bar "Tram 83" ihren Ausdruck findet. In einem scheinbar 'typisch afrikanischen' Ambiente werden Börsennachrichten aus Tokio ausgetauscht oder die Kulturlandschaft des kontinentalen Frankreichs diskutiert (Mujila 2015, 150–52); in der Bar werden so auch US-amerikanischer Hip-Hop, Jazz oder französische Chansons aufgelegt, Künstler:innen aus aller Welt treten hier auf. Die Figuren des Romans, die unter der lokalen Wirklichkeit eines Raubtierkapitalismus leiden und sehr deutlich die Folgen kolonialer Unterdrückung und Gewalt registrieren, beziehen sich in ihren Gesprächen zugleich auf einen gemeinsamen, globalisierten kulturellen Kontext, etwa auf globale Videospielhits wie Mortal Combat (Mujila 2015, 109) oder auf das Hollywood-Kino (Mujila 2015, 106).

In dem Stadtstaat realisiert sich so einerseits der Kapitalismus in einer durchaus spezifisch lokalen Manifestation – als post-koloniales Regime, das von einer Kompradorenbourgeoisie geleitet wird –, andererseits ist diese partikulare Konkretion intensiv in die Netzwerke, Waren- und Menschenströme der Globalisierung integriert. In der Stadt wird also nicht eine afrikanische Identität erfahren, sondern der globalisierte Kapitalismus in seiner lokalen Erscheinungsform. Das 'Afrika' Mujilas ist nur ein spezifischer Raum der Globalisierung und kein konkreter Kontinent ungetrübter identitärer Erfahrungen. Es ergibt daher Sinn, wenn der Autor erklärt, ein Werk über die Welt und nicht über den Kongo verfasst zu haben (Motter 2017).

2. "L'argent et le sexe" – die Trieblogik des Kapitals

Unter Globalisierung wird zumeist ein Prozess des 'Weltweit-Werdens' sozialer, politischer und ökonomischer Beziehungen verstanden. In diesem Sinne erklärt schon Karl Marx:

Eine Bedingung der auf dem Kapital basierten Produktion ist daher die Produktion eines stets erweiterten Zirkels der Zirkulation, sei es, dass der Kreis direkt erweitert wird, oder dass mehr Punkte in demselben als Produktionspunkte geschaffen werden. (Marx 1983, 311, Kursiv i.O.)

Das Kapital reißt aufgrund seiner Strukturlogik "jede örtliche Schranke des Verkehrs i.e. des Austausches nieder" und erobert "die ganze Erde als seinen Markt" (Marx 1983, 445). Das Resultat dieser Entwicklung ist eine globalisierte Welt, wie sie im Mikrokosmos Ville-Pays erfahrbar wird. Die lokalen Identitäten werden dabei nicht aufgelöst, sondern als partikulare Momente in das weltweite Netzwerk kapitalistischer Produktion integriert. Gleichzeitig dehnt sich das Kapital auch nach innen aus, es werden "mehr Punkte [in demselben Kreis der Produktion] als Produktionspunkte geschaffen"(Marx 1983, 311). Der Zugriff des Kapitals auf den Innenraum der Gesellschaft intensiviert sich mit der Ausdehnung des Kapitalismus stetig. Gesellschaftliche Sphären, die außerhalb der kapitalistischen Verwertung standen, Kunst, Kultur, Kommunikation usw., werden in die Netzwerke kapitalistischer Produktion integriert. Es gibt so in der Phase des Spätkapitalismus unserer Gegenwart recht eigentlich kein Außen des Kapitals mehr, die gesamte Gesellschaft ist nach der Geschäftszeit des Marktes strukturiert.

Individuum und Gesellschaft, persönliche Begierden und Fantasien sind genauso wie das kollektive Imaginäre und die Maschinen von Markt, Gesellschaft und Staat von der gleichen Logik strukturiert, von einem Kapitalismus, der sich immer neu im Partikularen realisieren kann und eben darum global zu nennen ist. Ein Jenseits dieses exzessiven und transgressiven Wettbewerbs, der wesensidentisch mit dem Sozialen selbst geworden ist, gibt es nicht. Der Kulturtheoretiker Mark Fisher beschreibt diesen Zustand im gleichnamigen Essay als Kapitalistischen Realismus und erklärt: "Capital follows you when you sleep." (Fisher 2009, 7)

Mujila nimmt diesen Gedanken auf, bringt ihn aber anders auf den Punkt. Das Geflecht aus interkulturellem Austausch, Ausbeutung, kriminellen Rohstoffdeals, illegaler Migration mit ihren unzähligen individuellen Charakteren, den Unternehmer:innen, Gangstern, Minenarbeiter:innen, Prostituierten, das er beschreibt, ist angetrieben und vereint durch "la même aspiration: l'argent et le sexe" (Mujila 2013, 105). "Sie alle sehnten sich nach denselben Dingen: Geld und Sex." (Mujila 2015, 80) Das französische Original kommuniziert hier eine Ambiguität, die im Deutschen verloren geht. "[L]a même aspiration" verweist nicht nur auf die (vielleicht als konservative Kulturkritik deutbare) Diagnose, dass alle vom Verlangen nach Sex und Geld angetrieben würden. Es beschreibt auch ein Näheverhältnis zwischen den beiden Ausdrücken, es ist womöglich dasselbe Streben, um das es hier geht. Mit dieser Ambiguität erfasst Mujila die zweite, oft übersehene Seite der Marx'schen Analyse des Kapitals: seine triebhafte Struktur. Das Kapital agiert, wie Marx immer wieder feststellt, wenngleich in Unkenntnis des noch gar nicht entstandenen psychoanalytischen Diskurses, triebhaft. Es folgt einem "einzigen Lebenstrieb, dem Trieb, sich zu verwerten, Mehrwert zu schaffen, mit seinem konstanten Teil, den Produktionsmitteln, die größtmögliche Masse an Mehrarbeit einzusaugen." (Marx 1962, 247) Es handelt sich hier um einen endogenen, wesenhaften Drang des Kapitals, der seiner inneren Verfasstheit notwendigerweise entspringt; das Kapital ist zwar auf die Expansion in ein Außen gerichtet, aber es reagiert nicht auf das Äußere, sondern folgt einer inneren Disposition.

Genau an dieser Stelle trifft sich Marxens Kapitalismusanalyse mit der Psychoanalyse, nämlich der Freud'schen Triebtheorie (Freud 1905, 67). Freud stellt in Jenseits des Lustprinzips fest, dass ein Trieb nicht nach Erlangung des Triebziels befriedigt ist (Freud 1920, 43–45). Denn die Bedingungen, aus denen sich der Trieb ergibt, die Triebspannung, liegen im Inneren des psychischen Systems und werden also nicht durch äußere Umstände beeinflusst (Freud 1920, 43–45). Das Wesenhafte eines Triebs ist für Freud daher, dass er unter "Wiederholungszwang" steht (Moati 2009, 11). Der Wiederholungszwang, dem das Kapital unterliegt, ist natürlich nicht gleichzusetzen mit einem menschlichen Trieb, diesem aber strukturell ähnlich. Der Hauptunterschied zwischen beiden besteht darin, dass es im Falle des Kapitals nie um eine Iteration geht, im Sinne der bloßen Reproduktion eines ursprünglichen Zustandes. Stattdessen verlangt die triebhafte Strukturlogik des Kapitals, die Sphäre der Kapitalakkumulation auszudehnen – wodurch die Trieblogik des Kapitals dem Ganzen der Gesellschaft immanent wird (Postone 1993, 73–75).

Gerade hierin besteht der eigentliche Moment der Globalisierung, der kapitalistische Realismus: In dem Maße, in dem das Kapital das vormalige Außen der Gesellschaft subsumiert, wird die Strukturlogik des Kapitals internalisiert. Die gesellschaftliche Struktur des globalen Kapitals setzt sich also absolut; Individualität, Persönlichkeit, Träume und Fantasien sind in der globalisierten Welt durch die même aspiration strukturiert, die Trieblogik des Kapitals, die sich in die individuelle Begehrensstruktur und, wie Luciens zynischer Freund Requiem feststellt, sogar unsere Körperlichkeit integriert: "Die Lebenserwartung liegt hier bei einundvierzig Jahren, ob einem das passt oder nicht! Die vier Jahre, die mir noch bleiben, nutze ich, wie es mir gefällt" (Mujila 2015, 77). Im Stadtstaat Ville-Pays wird das Prädikament des globalen Kapitalismus somit radikalisiert. Die Strukturlogik des Kapitals ist hier wortwörtlich den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen. Die Wirklichkeit des extraktiven Kapitalismus beschränkt die Lebenserwartung auf 41 Jahre, woraus Requiem die Konsequenz zieht, alles zu unternehmen, um die ihm verbleibenden Jahre angenehm verbringen zu können. Das körperliche Leben ist Stätte des Marktes, das heißt: es gibt ein Kontinuum zwischen ökonomischen Bedingungen, Phantasien und Begehren und dem nackten, biologischen Leben.

3. Identität und Kapital

Wo selbst die grundlegendste menschliche Erfahrung, die körperliche Existenz, durch die Strukturlogik des Kapitals determiniert ist, stellt sich die Frage der Identität noch einmal neu: Wie kann mensch in einer Welt, in der sich die Kapitallogik so absolut gesetzt hat, überhaupt von Identität sprechen? Im Roman stellt sich zumindest Requiem auf eine solche Position und verkündet in einem manifestartigen Gedicht: "Ich kappe die Wurzeln, die mich an die Ahnen binden." (Mujila 2015, 154) Für ihn ist klar, dass nur mehr ein Leben im kapitalistischen Hier und Jetzt, zwischen rauschhaftem Konsum und transgressiver Ausbeutung möglich ist. Authentizität und Identität als Kategorien lehnt er radikal ab (Mujila 2015, 154). Indes, Tram 83 erforscht noch eine zweite Möglichkeit des Umgangs mit kapitalistischer Totalität und erprobt eine andere, radikale Politik der Repräsentation von Identität im Spätkapitalismus. Dies zeigt sich nirgendwo deutlicher als in Mujilas Darstellung der Prostituierten in der Bar "Tram 83".

In der Welt, die Mujila erzählt, sind Frauen Gegenstand der konstanten Ausnutzung durch Männer. Dies betrifft nicht nur Sexarbeiter:innen: Lucien kommt kurzfristig mit einer Barbesucherin, die allgemein nur als 'die Diva' bezeichnet wird, zusammen. Doch geht es ihm bei diesem Verhältnis nicht so sehr um Liebe, sondern darum, die Gesangs- und Performancekünste seiner 'Partnerin' auszunutzen, von ihrem Geld zu leben und zeitweise bei ihr zu wohnen (Mujila 2015, 151–55; 184–88). Das patriarchale Herrschaftsverhältnis zeigt sich am brutalsten an den Prostituierten, die ausschließlich als Verfügungsmasse männlicher Bedürfnisse wahrgenommen werden. So erklärt etwa Requiem seinem Freund Lucien, als beide mit Prostituierten heimgehen:

Die Mädchen sind frei, demokratisch und unabhängig. Das Elend gibt dem Schamgefühl und eurer Höflichkeit den Rest. Hier ergreift oft das Mädchen die Initiative […]. Sie schaut dir direkt in die Augen. Sie frägt [sic!] dich nach deinem Namen. Sie sagt dir, dass du einen schönen Körper hast und dass sie von deiner Stimme Gänsehaut bekommt. […] Sie klammert sich an dich, weil du alles zahlst […]. Beim Bumsen gibt das Mädchen den Ton an. (Mujila 2015, 36–37)

Die Prostituierten werden hier zynischerweise als frei bezeichnet. Doch bedeutet diese Freiheit gerade keine Subjektivität, sondern konstituiert sich nur in der Erfüllung männlicher Bedürfnisse: Die Frauen handeln eigenständig (sie "geben den Ton an") nur in Hinblick auf die Sexarbeit, also dann, wenn sie männliche Bedürfnisse erfüllen. Ihre Initiative ist nicht die Selbstbehauptung, sondern besteht in der erfolgreichen Selbstausbeutung und Selbstauslieferung an den männlichen Blick. Entsprechend geht es ihnen, wie Tram 83 vermeldet, auch nur um die Ausgestaltung ihrer Körper nach den Wünschen der Männer (Mujila 2015, 24), die ihrerseits abfällig zum Beispiel über ihre "Silikontitten" (Mujila 2015, 22) sprechen. Solche Äußerungen sind natürlich sexistisch, aber es ist nicht ein Sexismus des Romans, sondern es sind die Verhältnisse selbst, die hier dargestellt werden. In der Tat erscheinen die Prostituierten im Roman nie als eigenständig und autonom Handelnde, sondern bleiben eine anonyme – wenn auch nicht namenlose – Masse. Es sind Gebrauchskörper für Männer ohne eigene Subjektivität.

Diese schonungslose Darstellung trifft sich mit der Kritik der Prostitution, die die Psychoanalytikerin Luce Irigaray formuliert: Unter den Bedingungen des Patriarchats fungiert die Frau, als "Gebrauchswert für den Mann, Tauschwert zwischen Männern" (Irigaray 1976a, 14). Irigaray führt in ihren Analysen den Körper und die Position der Frau in der heutigen Gesellschaft mit der Warenlogik eng, wie Marx sie beschreibt. Das Patriarchat konstruiert die Frau demnach gewissermaßen doppelt, als konkreten, privaten Gebrauchswert des Mannes und als Objekt des Austausches, also als Wertträgerin, in der sich die Werte der männlich dominierten Sexualität ausdrücken. Wie die Ware ist die Frau also als Gebrauchswert auf ihre materiellen Bedingungen, die ebenfalls nur Ausdruck männlicher Sexualität und Dominanz sind, reduziert. Als gesellschaftliche Entität kommt ihr jedoch keine dingliche Existenz zu. Frau-Sein ist für Irigaray unter kapitalistisch-patriarchalen Bedingungen immer ein Vorgang der Abstraktion: Nie ist die Frau wirklich und ganz Frau (Irigaray 1976b, 53–54).

Entsprechend sind die Prostituierten aus der "Tram 83" recht eigentlich stumm. Wie Fremdkörper unterbrechen sie die Gespräche der männlichen Protagonisten mit der immergleichen Frage: "Vous avez l'heure?" (Mujila 2013, 22) – "Was sagt die Uhr?" (Mujila 2015, 15) Freilich gilt diese Frage nicht wirklich der Uhrzeit, sondern signalisiert den Abschluss des animierenden Anbahnungsgesprächs. Dem potentiellen Kunden wird bedeutet, dass es nun Zeit ist, ins Geschäft zu kommen. Die Zeit, nach der die Prostituierten sich erkundigen, ist also eine Geschäfts-Zeit, strukturiert nach der Logik des immerwährenden Wettbewerbs und Konsums. Die Notwendigkeit, sich zu verwerten, Geschäft zu machen, also das Kapitalverhältnis, setzt sich als Zeiteinheit. Gleichzeitig ist in der Erwähnung der Uhrzeit das reale Anwesen der Notwendigkeiten des Marktes ausgesprochen. Der Markt ist also nicht nur etwas, das abstrakt anwesend ist, als eine Form der Vergesellschaftung, sondern er strukturiert Zeit und Sprache, realisiert sich in diesen und wird so zum Konkreten, Anwesenden einer Lebenswelt. In dem Moment, in dem die Prostituierten zu Wort kommen, drücken sie also nur die allgegenwärtige Marktlogik aus, die Frau ist hier nicht weibliches Subjekt, sondern Objekt auf dem Markt, eine Ware, die sich selbst anpreist.

In ihrer Auseinandersetzung mit den Verknüpfungen von patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft stellt Irigaray fest, dass das Ware-Sein eine meta-physische Angelegenheit im Wortsinne ist. Ein Warenkörper wird Ware nur durch den Austausch. Der Körper der Ware ist zwar auch Ware, doch diese ist niemals qua Körperschaft Ware. Ebenso ist der konkrete, physische Körper der Frau zwar den gesellschaftlichen Zwängen des Patriarchats unterworfen, doch niemals ganz und gar Frau, da Frau-Sein letztlich gesellschaftliche Realabstraktion ist, die nur jenseits ihrer Konkretion aber niemals selbst im Konkreten auftreten kann. Der Körper der Frau wird im Gesellschaftlichen konstruiert und der männlichen Kontrolle unterworfen, doch sobald er aus der Gesellschaft, dem ständigen Tausch unter Männern tritt, und von diesen angeeignet wird, verliert er seinen Tauschwert. Der Körper der Frau ist nicht mehr Körper der Frau, sondern der Körper, der gebiert, der noch nicht penetriert ist oder genutzt wird zum Zwecke der Penetration:

Insgeheim toleriert, öffentlich von der gesellschaftlichen Ordnung verbannt, ohne Zweifel, weil der Schnitt zwischen Gebrauch und Austausch in ihr weniger rein ist. Die Qualitäten des Frauenkörpers sind hier 'nützlich'. Indessen haben sie Wert nur, sofern sie durch einen Mann angeeignet werden und sofern sie als Ort von – verkappten – Beziehungen unter Männern dienen. Die Position wäre die des Nutzens, der ausgetauscht wird. (Irigaray 1976b, 57)

Der skandalöse Moment der Tauschbarkeit von Geschlechtsverkehr liegt nicht im Austausch selbst begründet, sondern im Gebrauchswert des Körpers der Prostituierten. Weil also der Körper der Prostituierten in einer männlichen, repressiven Ordnung zum Gebrauch bestimmt ist – ein Akt der Gewalt, der Exklusion und Unterwerfung – wird er zum Gegenstand des Tausches. Indem der Körper der Frau durch seine Vermarktung in der gesellschaftlichen Abstraktion des Tauschwertes alleine erscheint, wird er im gleichen Moment auf seinen Gebrauchswert festgeschrieben (Irigaray 1976b, 56).

Auf die Prostituierten in Tram 83 übertragen heißt das: Einerseits tritt der Kapitalismus hier als reale Abstraktionsbewegung auf, der die Frauen der Peripherie marginalisiert und sie von der Existenz so lange ausschließt, bis sie ihre Identität aufgeben und sich selbst – ihre Körper – kommodifizieren. Dadurch aber partizipieren sie nicht am globalen Markt, sie verkaufen gerade nicht ihre Arbeitskraft, sondern es verwirklicht sich an ihnen eine vorkapitalistische Form der Ausbeutung durch direkte Gewalt. Indem sie in die Warenströme treten und im wahrsten Sinne ihre Haut zu Markte tragen, werden sie auf ihren Gebrauchswert für die männliche Sexualität reduziert, entsprechend der patriarchal-ökonomischen Logik der Prostitution, die Irigaray aufzeigt.

Mujilas Roman illustriert diesen Prozess schonungslos: Die Sexarbeiter:innen sind hier Subalterne ohne Stimmen, da dies die Position ist, auf die sie der absolute Markt festgelegt hat. In ihren konkreten, identitären Erfahrungen realisiert sich ihre materielle Position im Netzwerk aus Postkolonialismus, Patriarchat und globalem Kapital. Die Identität der Frauen als nicht-weiße Prostituierte in einem post-kolonialen Kontext ist immer schon auch die Identität des Kapitals mit sich selbst, was nirgendwo deutlicher wird als in ihrer Namenswahl:

[U]nd sie trugen fremd klingende Namen, Marylin Monroe oder Sylvie Vartan oder Romy Schneider oder Bessie Smith, Marlene Dietrich oder Simone de Beauvoir, alles war recht, um der Welt zu zeigen, dass es sie gab. (Mujila 2015, 15)

Die Prostituierten können keine Präsenz in der Welt beanspruchen, solange sie nicht in die Zirkulation treten und ihre Namen ablegen. Solange sie außerhalb der Austauschbarkeit stehen, existieren sie nicht. Sie müssen sich, um zu überleben, selbst in die Zirkulation einschreiben, indem sie sich auf Artefakte einer globalen Kultur in ihren Pseudonymen beziehen. Wer dabei die Namenspatronin wirklich ist, ob Romy Schneider oder Simone de Beauvoir, spielt keine Rolle. Es zählt nur, auf diese Weise in ein Verhältnis zur Welt zu treten, eine repräsentierbare Wertgröße zu verkörpern und sich so verkaufen zu können. Die Umbenennung nach 'westlichen' und zugleich globalen Berühmtheiten markiert den eigentlichen Akt der Selbstvermarktung, die überhaupt erst eine Identität ermöglicht und zugleich Ausdruck der latenten Namenlosigkeit ist, die in den Zonen des Zerfalls des Nationalstaates an der Peripherie der globalen Zentren herrscht.

Die Namen, die die Frauen annehmen, um "der Welt zu zeigen, dass es sie gibt" (Mujila 2015, 15), um also in eine Beziehung zur Welt und damit in die Marktsphäre zu treten, sind nicht beliebig. Es handelt sich um Namen von Berühmtheiten, denen im Kontext der Peripherie eine auratische Bedeutung zukommt, da sie weltweit zirkulieren. Die Zirkulation, die weltweite Rezeption und Rezipierbarkeit ist Voraussetzung für die Aneignung durch die Prostituierten. Um überhaupt die auratische Qualität der globalen Resonanz zu haben, müssen die Namen allerdings aus ihrem partikularen, spezifischen Kontext entfernt, abstrahiert und so austauschbar werden, bis dahin, dass Marilyn Monroe als Name gleich viel gilt wie Simone de Beauvoir. Wie bei der Ware ist die Qualität des Namens, die konkrete partikulare Eigenschaft der Trägerin, egal, es zählt nur die globale Zirkulation, also die Austauschbarkeit und damit der Tauschwert des Namens. Wenn die Prostituierten sich die Namen aneignen, sie also gebrauchen, ist der Gebrauchswert, um dessentwillen sie dies unternehmen, gerade jene Austauschbarkeit als Wert an sich. Denn nur durch jene Austauschbarkeit, durch die Annahme der puren Warenlogik, können sie in eine Beziehung zur Welt treten und also eine Identität haben.

Die Prozesse der Globalisierung produzieren die Namen der Prostituierten, da sie eine globale Kultur konstituieren, einen Umlauf von Waren und Kulturgütern. Und mehr: Die Namen selbst funktionieren aufgrund ihrer qualitätenlosen Austauschbarkeit im Moment ihrer Annahme durch die Prostituierten wie Waren. Die Strukturlogik des Kapitals erscheint nicht als sie selbst, sie betrifft nicht das Ökonomische, und doch ist sie präsent als immanente Strukturlogik der Identität der Prostituierten. Das Kapital realisiert sich in allen Bereichen gesellschaftlicher wie individueller Existenz und hat sich in die Identitätskonstitution der Prostituierten selbst eingeschrieben. Die Ströme und Logiken der globalen Zirkulation, das Wesen der Warenproduktion und des Warentauschs, der die Globalität der Namen bedingt und ihnen selbst immanent ist, strukturieren damit ihre Identität, die zugleich immer auch eine Identität im globalen Raum der Strukturlogik des Kapitalismus ist.

Der globale Kapitalismus als Struktur ist in seinem vermeintlichen Außen, in der Peripherie, in den Identitäten von Prostituierten, präsent. Dabei sind die Frauen, die als Sexarbeiter:innen in der "Tram 83" anschaffen müssen, bar jeder authentischen Individualität. Der brutale Blick des Marktes, der in Mujilas Roman widergespiegelt wird, hat sie auf ihre materielle Dimension, auf ihre Ausbeutung reduziert und realisiert sich noch in ihrem Namen. Nichts kann hier mehr sprechen, nichts anderes ist erfahren denn die Globalität des Verwertungstriebs, die sich im Konkreten von Körpern und Erfahrungsräumen manifestiert und diesen ihre Position in einer Welt der Ungleichheit zuschreibt. Der Kapitalismus realisiert sich nicht einfach als kolonisierende Macht, sondern als ein intimes Verhältnis, das in der konkreten Situation internalisiert wird.

4. Politiken der Identität

Indem Mujila den ungeschminkten, kapitalistisch-patriarchalen Blick auf die Prostituierten als verwertbare Körper und verwertete – und also kommodifizierte – Identitäten darstellt, eröffnet er eine Perspektive jenseits der Identität. In Tram 83 stellt sich Identität als eine Kategorie in der totalen Globalität des Kapitals dar. Identität ist konstituiert durch den Wiederholungszwang des Kapitals, der sich im Partikularen materialisiert, was jedoch nicht heißt, dass sie irrelevant ist: Mujila wiederholt gerade nicht Requiems einfache Negation der Identität. Stattdessen beschreibt er die konkrete Position von Frauen im post-kolonialen Raum, ihre Lebenswelt an den Kreuzungspunkten von globalem Kapitalismus und patriarchaler Unterdrückung. Er wiederholt (also: repräsentiert) den Blick, dem diese Frauen ausgesetzt sind, und zeigt aus dieser Perspektive, wie sich einerseits in ihrer konkreten, partikularen Situation die globale Strukturlogik des Kapitals manifestiert und wie diese Manifestation andererseits nur möglich ist, aufgrund konkreter, lokaler, patriarchaler Exklusionsprozesse.

Im Grunde widersteht Mujila damit zwei Versuchungen. Der Versuchung der Essentialisierung einer identitären Erfahrung, die auf Seiten der nationalen Allegorie steht, und der Versuchung einer Abstraktion, die das Partikulare zugunsten der Darstellung des Kapitals negiert. Stattdessen hebt er beides – die individuell-identitäre Lebensrealität der Prostituierten und die Globalität der Strukturlogik des Kapitals – ineinander auf. Indem er gnadenlos die Realität einer hyper-kapitalistischen und patriarchalen Lebenswelt darstellt, lässt er die Leser:innen die Besonderheit der konkreten, spezifischen Position der Prostituierten und zugleich die Art und Weise erkennen, wie sie in den globalen Kapitalismus einbezogen sind. Dies bedeutet freilich, den brutalen Verwertungstrieb des Kapitals nachzuvollziehen, in dem die Prostituierten eben keine Subjekte sind, die selbstbestimmt über ihre Identität bestimmen und von ihr berichten können. Denn in der Logik unserer globalisierten, kapitalistischen Weltordnung bestimmt die Kapitallogik über Identität und Repräsentanz. Es repräsentiert sich im Individuellen immer nur die Repräsentationslogik des Kapitals (das als selbstverwertender Wert in dauernder differance auf sich selbst verweist).

Dieser spezifische Zug kennzeichnet das literarische Projekt Mujilas insgesamt: (Post-)Kolonialismus, extraktiver Kapitalismus, Formen des Ausschlusses und der Marginalisierung, die Erfahrung des Lebens in einer sexistischen Gesellschaft usw. werden zur Sprache gebracht. Versuchsweise könnten wir von einem radikal-realistischen Blick auf die Realität des globalen Kapitalismus sprechen. Realistisch ist dieser Blick deshalb, weil sich der kapitalistische Realismus ins Literarische selbst einschreibt. Der Wiederholungszwang des Kapitals schafft dauernd neue, partikulare Situationen und konstituiert sich in diesen (Schuller 2021, 300–11). Hoffnungen darauf, dass es ein Außen des Kapitals beispielsweise in besonders rebellischen Identitätsformen gibt, sind damit dahin. Diese waren immer schon in kapitalistische Fantasien eingebunden (ebd.). Genau das führt uns Tram 83 vor Augen: Hier existiert kein Außen des Kapitalismus oder eine Möglichkeit zur Solidarität und erst recht gibt es keine widerständigen Identitäten. Stattdessen werden die Lesenden ununterbrochen mit dem Verwertungstrieb des Kapitals konfrontiert, der sich in zahlreichen Episoden, in den Figuren und ihren Identitäten immer neu realisiert.

Im Grunde verhandelt der Roman damit, ganz nach Hartmut Rosas Konzept, die dauernde, situative Konstitution von Identität, wie sie postmoderne Gesellschaften auszeichnet. In Erzählpartikeln werden wir mit Formen von Identität und ihrer Performanz konfrontiert. In oft unzusammenhängenden Episoden, die ununterbrochen von anderen Stimmen gequert werden, erfinden sich Lucien und Requiem stetig neu. Daneben werden andere identitäre Positionen, wie etwa jene der Prostituierten, in ihrer Performanz untersucht. Doch aus diesem Gewirr aus Stimmen und partikularen Erfahrungen ergibt sich gerade keine Form der Dissidenz. Ganz im Gegenteil realisiert sich in den Episoden, Wortfetzen und kontingenten Identitätskonstrukten aufs Neue, wenngleich anders die Verwertungslogik des Kapitals. Dieses schafft keinen monolithischen Zusammenhang, sondern realisiert sich gerade im Rausch des Erzählens von Identitäten. Mujila zeigt so, dass im individuellen Ausdruck, in der Identität, nichts ist, das Widerstand verspricht, sondern immer nur die Präsenz des Kapitals. Er vollzieht die Bewegung des kapitalistischen Realismus selbst nach und denkt sie konsequent zu Ende und macht so die Gegenwart von Kapital und Machtstrukturen erfahrbar. Das Literarische wird damit nicht zum Erfahrungsraum der Identität und dient auch nicht als Archiv, sondern als Labor, in dem Identität zerlegt – analysiert – werden kann. Denn in der scheinbaren Individualisierungswelle, die Rosa konstatiert, realisiert sich nicht die Freiheit des Individuums, sondern der Wiederholungszwang des Kapitals.

5. Dialektik und Identität

Im Kontext des 'Identitätsboom' schlägt Mujila eine dialektische Politik der Repräsentanz vor, die freilich der Grund für die Fehldeutungen der deutschen Kritik am Roman sein mögen, in der aber der Moment des Radikalen steckt. Als im Kongo geborener Autor schreibt er über ein fiktionales Afrika, in dem es um identitäre Erfahrungen geht, um Sexarbeit, das Leben im Post-Kolonialismus, um Bürgerkrieg, Gewalt, Sexismus usw. Doch behauptet er nicht, authentische (Selbst-)Erfahrungen zu literarisieren, sondern dekonstruiert durch den kapitalistisch-realistischen Blick gerade essentialistische Identitätsvorstellungen. Sein Afrika ist auch die Welt, in der die Allgegenwart des Kapitals partikulare Situationen und Identitäten determiniert und strukturiert. Die Kategorie der Identität wird damit transzendiert, aber nicht im Sinne der eingangs erwähnten Kritiker:innen des Konzepts.

Im Gegensatz dazu betreibt Mujila eine Aufhebung der Identitäten und stößt in ihrer Dekonstruktion auf ihre materielle Basis. Damit wendet er sich aber auch gegen die Politik des Identitären, wie sie manche seiner professionalisierten Rezipient:innen an den Tag legen. Diese bleiben beim Partikularen der Identität stehen. Dass es eben ein Jenseits der Erfahrung gibt, eine abstrakte Struktur, die die einzelnen Erfahrungen zusammenhält und durchdringt, ist hier nicht mehr denkbar. Vielmehr erscheint die Welt ganz im Sinne eines gerade in der Akademie weit verbreiteten Liberalismus. Nicht nur die theoretische Möglichkeit der Totalität, sondern die ganz praktische Feststellung, dass es globale Strukturen gibt, die Identitäten ausschließen, Hierarchien erzeugen und in denen nicht einfach Erfahrungen nebeneinanderstehen können, ist einer solchen Ideologie anathema. Tram 83 ist genau deshalb provokant, weil der Text diesen bloß identitären Blickwinkel überschreitet. Er zeigt erstens eine Welt, in der manche wirklich zum Schweigen verurteilt sind, keine agency besitzen und von jeder Repräsentation ausgeschlossen sind. Die Identität als Prostituierte in Tram 83 bedeutet, auf das bloße Fleisch reduziert zu sein, auf Waren- und Gebrauchswert im globalen Kapitalismus, der sich selbst im Namen einschreibt. In der Identität spricht sich nur die Logik des Marktes, die Logik einer Welt der Ungleichheit, der Gewalt und des Todes. Zweitens zeigt sich, dass es ein Jenseits der Identität gibt, das dieser ebenfalls eingeschrieben ist: Die authentischen Erfahrungen des Individuums sind Ausdruck einer materiellen Realität, der Totalität des Kapitalismus. Die kapitalistische Totalität wird real nur im Konkreten individueller Identität.

Mujilas radikaler Realismus beschränkt sich nicht auf seine Treue gegenüber dem literarischen Prinzip. Er zeichnet sich dadurch aus, die Identität im Kapitalismus zu denken und das Identitäre als Größe im Kapital darzustellen, durch die das Kapital erfahrbar wird. Gegen eine Identifizierung von Darstellung und Dargestelltem, Text und Autor schlägt Mujila einen solchen sozialen Realismus der Identität vor. Ein Realismus, der das Partikulare ernst nimmt und es doch bricht, um in ihm literarische Erfahrungsräume der Realabstraktion des Kapitalismus zu eröffnen. In Mujilas Roman wird die geteilte Welt des kapitalistischen Multiplex erfahren und damit im Jenseits der Identitäten implizit die Frage nach emanzipatorischer, globaler Subjektivität gestellt. Eine Subjektivität freilich, die verschiedene Identitätskonstruktionen umfassen mag, zugleich aber auch mehr sein muss als diese.

Notes

  1. Eine gesellschaftliche Wirklichkeit in der Vorstellung Voits freilich. Denn auch wenn Vergewaltigungen beispielsweise in der DR Kongo vorkommen und im Osten des Landes als Kriegswaffe eingesetzt werden, ist es doch zumindest problematisch, davon auszugehen, dass sexualisierte Gewalt gegen Frauen* dort systematisch angewandt würde, also normalisiert sei. [^]

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