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Erfahrungsformate: Zur anthologischen Produktion von Authentizität in der bundesrepublikanischen Literatur um 1968, um 1980 und heute

Author: Christopher Busch (University of Bonn)

  • Erfahrungsformate: Zur anthologischen Produktion von Authentizität in der bundesrepublikanischen Literatur um 1968, um 1980 und heute

    Research

    Erfahrungsformate: Zur anthologischen Produktion von Authentizität in der bundesrepublikanischen Literatur um 1968, um 1980 und heute

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Abstract

The article explores an important strand of German literature from ca. 1968 until today in terms of its inclination towards 'authentic communication', a feature that is part of the historiographical concepts of 'Neue Subjektivität' and 'Neue Sensibilität'. With Foucault and others it is argued, that authenticity can only be produced by acts of authentification and thus entails a power structure that needs to be unravelled in a theoretical framework which is sensitive to discourse analysis and its methodological ally, paratextual reading. The article thus focusses on anthologies as media of authenticity, media it is, that render specific powers to authors and/as editors. It is shown, that so called 'Neue Subjektivität'/'Neue Sensibilität' is a discursive effect produced by pedagogy and emancipatory groups (of the so called 'Alternativmilieu'). Its anthological re-discription in contemporary culture, however, should be conceived of as a means to re-introduce a genuine aesthetic that no longer can be described as merely communicative or non-experimental.

Keywords: experience, anthologies, authenticity, discourse analysis, german literature since the 1960s

How to Cite: Busch, Christopher. "Erfahrungsformate: Zur anthologischen Produktion von Authentizität in der bundesrepublikanischen Literatur um 1968, um 1980 und heute." Genealogy+Critique 10, no. 1 (2024): 1–26. DOI: https://doi.org/10.16995/gc.10949

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Published on
2024-02-23

Peer Reviewed

1. Einleitung

Die Kategorie der Authentizität generiert derzeit einiges an literatur- und kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Im populären Sachbuch, in rezenten Einzelstudien und in interdisziplinär angelegten, aktuellen Sammelbänden zum Thema proliferiert ein Interesse, das plausibel als Beleg für die These interpretiert werden kann, "dass [Authentizität] für die Gegenwart als zentrale Sehnsucht zu beschreiben ist"1 – womit Versuche ihrer Erforschung auch gleich nachdrücklich legitimiert wären. Nimmt man zur Kenntnis, auf welche Pointierungen der Kategorie derzeit in den Literatur- und Kulturwissenschaften mehrheitlich rekurriert wird, dann könnte man allerdings auch anders formulieren: Seit den 1960er Jahren hat das kulturanalytische Interesse am Komplex 'Authentizität, authentisch' nicht mehr merklich nachgelassen.2 Als Startpunkt der neueren Theoretisierungsgeschichte können dabei exemplarisch die divergierenden begrifflichen Interventionen zweier Vertreter der Kritischen Theorie hervorgehoben werden, nämlich diejenige von Theodor W. Adorno einerseits und diejenige von Herbert Marcuse andererseits. Hatte Adorno schon in der mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung (1947) den Begriff der Authentizität auf die ästhetische Valenz von Kunstwerken übertragen und diesen Bezug im Essay Wörter aus der Fremde und in der Ästhetischen Theorie (postum 1970) erneut bekräftigt,3 so verknüpfte ihn Marcuse mit der Konzeptualisierung eines "autonomen Ich[s]" im Zuge der 68er-Revolution: "Authentizität", so resümiert Christoph Zeller Marcuses Position, "versprach die Restitution subjektiver Autonomie und traf sich mit den Zielen der Protestbewegung, die sich gesellschaftlichen Wandel von sexuell befreiten, politisch partizipierenden und kreativ handelnden Individuen erhoffte."4 Konstituiert und aktualisiert hatte sich auf diese Weise ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite ein ästhetiktheoretisch formierter Begriff künstlerischer Objektauthentizität (Adorno) und auf der anderen Seite ein ethisch konnotierter Begriff von Subjektauthentizität (Marcuse).5 Beide Begriffe waren dabei aufgrund ihrer Normativität letztlich vermittelbar: Das authentische Kunstwerk ist ästhetisch wertvoll; das authentische Subjekt ist frei von sozialen Zwängen und daher handlungsmächtig und potentiell kreativ.

Einerseits erlaubte dieser Zuschnitt des Authentizitäts-Konzepts eine Vielzahl produktiver theoretischer und ästhetischer Anschlüsse. Andererseits aber provozierte die kulturelle und kulturindustrielle Ubiquität der Kategorie mit der Zeit ein Differenzierungsinteresse, das sich, (post-)strukturalistisch informiert, den emanzipatorischen Prämissen der Kritischen Theorie nicht länger fraglos verpflichtet sah. Helmut Lethens einschlägige Überlegungen zu Versionen des Authentischen (1996) lesen sich bereits als Resümee dieser Position. Gesetzt ist die These: "Was 'authentisch' ist, kann nicht geklärt werden"; es bleibe zu fragen, "welche Verfahren den Effekt des 'Authentischen' auslösen können." Erst auf diese Weise wird der Blick frei für den Umstand, dass "das Wort in den Diskurs der Macht verwoben" ist.6 Lag dieser Befund bereits in einschlägigen etymologischen und begriffsgeschichtlichen Artikeln zutage, so markiert erst Lethens vernehmbar an Michel Foucaults Machtanalytik orientierte Beobachtung einen Einschnitt, auf den die nachfolgende Forschung mal mehr mal weniger nachdrücklich rekurriert. Konsens ist hier, dass die Kategorie der 'Authentizität', insofern sie theoretisch anspruchsvoll modelliert werden soll, als Zuschreibungsphänomen oder als Übereinkunft zu fassen wäre.7 Zu analysieren sind demnach Instanzen, die als relationale Glieder von Authentifizierungsakten fungieren, in denen Subjekten, Objekten, Ereignissen und Darstellungen das Authentizitätssiegel verliehen wird.

In der kurrenten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung wird der skizzierte Stand der Überlegungen durchaus berücksichtigt. Für die vorliegende Argumentation ist ihr Praxiskern insofern noch nachdrücklicher in den Fokus zu rücken, als sie sich der historiographischen Neubeschreibung einer für die bundesrepublikanische Literatur seit den mittleren 1960er Jahren zentralen Strömung widmen möchte, deren Konjunkturverläufe auch für die Gegenwartsliteratur und ihren 'Identitätsboom' (Klanke/Marx) einschlägig sind.8 Dabei ist einer der Fluchtpunkte der Argumentation die historische Verankerung aktueller Diskussionen zum Verhältnis von Literatur, Identität und Repräsentation. Erst so wird es möglich, den spezifischen Formbeitrag der entsprechenden gegenwartsliterarischen Unternehmungen adäquat einschätzen zu können.

Historiographisch ist die Literatur, um die es gehen soll, als 'Neue Subjektivität' oder als 'Neue Sensibilität' kodifiziert worden. Die Termini sind nicht deckungsgleich. Während mit dem literaturkritischen Etikett 'Neue Subjektivität' die Opposition gegen ein faktographisches Regime operativer Literatur, wie es prominent von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel im Kursbuch 15 (November 1968) vorgestellt wurde, betont werden sollte,9 handelt es sich bei der Bezeichnung 'Neue Sensibilität' um eine Selbstbeschreibung von Akteur:innen des politischen und ästhetischen Feldes, die sich auf eine politische Haltung, und gleichzeitig auf ein alltagsorientiertes, anti-akademisches und intermediales Kunstverständnis bezog.10 Beide Konzepte überschneiden sich allerdings hinsichtlich ihres programmatischen Kerns, der authentischen Kommunikation von Erfahrung. Er hatte eminent politische Implikationen.

Mit dem Imperativ der Erfahrungskommunikation war nämlich im Zuge der Studierendenproteste der Jahre 1967/68 die Verheißung verbunden, dass potenziell marginalisierte Gruppen in die Lage versetzt werden könnten, an der Produktion von Öffentlichkeit beteiligt zu sein.11 Vorausgesetzt war die gepflegte Semantik einer ubiquitären, kapitalismusinduzierten Unterdrückungserfahrung. Dementsprechend argumentiert Rudolf zur Lippe in dem programmatisch betitelten Aufsatz Objektiver Faktor Subjektivität aus dem Jahr 1974 gleichzeitig rückblickend und vorausschauend:

In der Parole der Studentenbewegung 'Diskutiert eure Ängste' steckte bereits ganz allgemein die Einsicht in die Notwendigkeit, das individuelle Erleben jener Zwänge öffentlich zu verarbeiten. Aber erst in den folgenden Jahren wurde versucht, das Programm der Revolte durch politische Erfahrungen innerhalb linker Gruppen und Wohngemeinschaften und gegenüber dem Proletariat im Betrieb und im Stadtteil einzulösen. Politisierung heißt, Verhältnisse und Beziehungen zu sich selbst, zu anderen, zu Gegenständen als Wirkung oder Bedingung öffentlicher Zusammenhänge zu begreifen. Statt privat etwas zu erleiden, muß man es mit anderen Betroffenen diskutieren und gemeinsam ein Verhalten erarbeiten.12

Was zur Lippe als Nukleus der Politisierung verstehbar macht, das Selbstverhältnis und darauf aufbauend die Verhältnisse im Außen, ist schon Ergebnis einer Formierungsarbeit, die Mitte der 1960er Jahre im Bereich der Literatur eingesetzt hatte.13

Ein für die skizzierte, an Authentifizierung qua Erfahrungskommunikation orientierte Literaturprogrammatik typisches Format ist, wie gezeigt werden soll, die Anthologie. Ihr editorialer Zuschnitt, der einen oder mehrere Herausgeber:innen vorsieht, die einschlägiges Material auswählen und zusammenstellen, etabliert per se eine Konstellation, in der der Erfahrungsgehalt und folglich die Authentizität dieses Materials deklariert und präsentiert werden können.14 Die Anthologie erweist sich folglich als Format; im Paradigma der 'Neuen Subjektivität'/'Neuen Sensibilität', so die zu entfaltende Hypothese, können Anthologien als Erfahrungsformate beschrieben werden. Verwendet werden sollen die Begriffe des 'Formates' und der 'Formatierung' mithin im Sinne der Bestimmung von Michael Niehaus, der, im Kontext einer Diskussion von Medienformaten, vorschlägt, als "differentia specifica" des Formats den Umstand zu identifizieren, "dass es vorgegeben ist. Es stellt […] gerade deshalb eine 'Lösung' dar, weil es eine stehende Einrichtung ist, auf die 'man' sich wie auf eine Institution beziehen kann."15 Der Institutionencharakter der Anthologie besteht demnach, bei aller Variabilität von Literaturprogrammatiken, darin, dass eine im (Buch-)Medium präsentierte Sammlung und Anordnung von Texten unterschiedlicher Autor:innen mit einer editorialen, mitunter auch vertexteten Perspektive auf dieses Material dargeboten wird. Ersichtlich wird dergestalt, dass die Vertextungen authentischer Erfahrung vielfach weder als objektauthentisch (authentischer Text), noch als subjektauthentisch (authentische:r Akteur:in) rekonstruiert werden können,16 sondern vielmehr als Elemente eines Diskurses und damit einer Praxis, die authentische Erfahrung zuallererst hervorbringt17: Die 'erfahrungsgesättigten', 'authentischen' Anthologie-Texte sind eingebettet in Kommunikationssituationen, in denen die Produktion des als authentisch deklarierten Materials eingefordert und schließlich, durch editoriale Texte gerahmt, der Öffentlichkeit präsentiert wird.18 Was auf diese Weise entsteht, ist eine Sammlung von Texten, die als einzelne die Autorperson als Repräsentant:in einer sozialen Gruppe markieren, wie sie, als Ganzes gelesen, diese Gruppe als Inhaberin spezifischer Qualitäten mithervorbringen.

Im Folgenden sollen drei Beispiele analysiert werden, die exemplarisch die Virulenz dieses literaturprogrammatischen Settings über einen längeren Zeitraum bis in die unmittelbare deutschsprachige, literarische Gegenwart dokumentieren. In den Blick rücken dabei die editorialen Peritexte der Anthologien, die Vor- und Nachworte sowie die editorialen Aufforderungszirkulare, weil in ihnen die Adressierungen und Rahmungen der ausgewählten Anthologietexte greifbar und die Stimmen der Herausgeberinstanzen vernehmbar werden; die von den Herausgeber:innen ausgewählten und disponierten Texte sind Dokumente vorgeschalteter, ordnender Lektüren, deren Funktion darin besteht, die nachfolgenden Lektüren für eine interessierte Öffentlichkeit anzubahnen.19 Sichtbar werden auf diese Weise anthologische Verfahren der Produktion von Authentizität, die für sich reklamieren, spezifische soziale Identitäten zu dokumentieren. Diese Verfahren sind auf je unterschiedliche Weise strategisch konstelliert: "Identitäten und Verhaltensweisen als authentisch zu erklären oder für authentisch zu halten ist in diesem Sinne", mit Sven Reichardt gesprochen, "eine politische Machtfrage."20 Angelehnt an Foucault wird dabei, analog zur Rekonstruktion des Authentifizierungsakts, von einem relationalen Machtkonzept ausgegangen, das "die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren" bezeichnet und ferner "das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt", benennt: Die anthologische Produktion von Authentizität hat in ihrer identitätsfixierenden, bekenntnisfordernden Energie ein normierendes Element, wie sie auch gleichzeitig gegen konkurrierende Normierungen strategisch Position bezieht. Die anthologische Erfahrungsliteratur ist damit ein Knotenpunkt, an dem "gesellschaftliche[] Hegemonien"21 ausgehandelt werden.

Diese Aushandlungen erstrecken sich, so soll gezeigt werden, immer auch auf das Wissen um eine adäquate, zeitgemäße Legitimation von Literatur selbst: Für die kulturgeschichtlich hochgradig markierte Phase zwischen 1968 (Studentenrevolte) und ca. 1980 (Beginn der allmählichen Auflösung des Alternativmilieus) wird es um die Rekonstruktion einer Formatierung 'authentischen' literarischen Sprechens gehen, die eng an pädagogische und emanzipatorische Interessen geknüpft ist, die darum aber nicht weniger disziplinierend und regulativ verfährt. Der Blick auf eine nicht zuletzt vom Kulturfeuilleton beobachtete, vermeintliche Wiederaufnahme solcher Verfahren in der Gegenwartsliteratur soll abschließend erläutern, inwiefern für 'authentisches' literarisches Sprechen heute gerade umgekehrt Formen der Re-Ästhetisierung funktional sein können.

2. Um 1968: Schüler:innen schreiben (Primanerlyrik – Primanerprosa (1965), Wir Kinder von Marx und Coca-Cola (1971))

Als Peter Rühmkorf und Armin Schmid im Jahr 1965 eine Anthologie mit dem Titel Primanerlyrik – Primanerprosa bei Rowohlt herausgeben, kommt es ihnen durchaus zeittypisch darauf an, die Bedingungen der Produktion dieses Bandes in den Peritexten transparent zu machen.22 Westdeutsche Schülerzeitungen waren angeschrieben worden mit der Bitte, den Herausgebern literarisches Material für eine Anthologie zu übermitteln. Aus über 3000 Einsendungen wählen Schmid und Rühmkorf rund 170 Texte zum Druck aus. Schon der Titel des Bandes zeigt an, dass diese Literatur dokumentarischen Wert haben soll. Aber warum ist es wichtig zu wissen, wie und was Primaner:innen schreiben?

Die Beobachtung der Literatur von Schüler:innen lässt sich als Diskursereignis erklären: Nachdem die soziologische und psychologische Jugendforschung bereits in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts etabliert worden war, hatte sich in den 1950er Jahren das Interesse für Jugend und Jugendkulturen in der frühen BRD erneut stark intensiviert.23 Im Fokus stand die Frage nach dem zentralen Subjekt der Re-Education und der Re-Orientierung, das sich einer Vielzahl von Bildungsmaßnahmen und gleichzeitig, nicht zuletzt in (pop)kultureller Hinsicht, einem wachsenden, US-amerikanischen Einfluss ausgesetzt sah. Öffentlich diskutiert wurden Fragen jugendlicher Delinquenz und Sexualität, die mit dem Konsumverhalten, aber auch mit Kriegs- und Traumafolgen korreliert wurden, Stichwort: Halbstarke. Helmut Schelskys These von der nüchtern an gesellschaftlichem Aufstieg orientierten, 'skeptischen Generation' war dabei nur die berühmteste dieser Zeitdiagnosen, der eine Reihe konkurrierender Deutungsangebote gegenüberstanden.24 Insgesamt schlägt in der zweiten Hälfte der 50er Jahre die "Stunde der Experten"25 in Fragen der wissenschaftlichen und publizistischen Einordnung jugendlichen Verhaltens. Bodo Mrozek resümiert:

Die Jugend wurde in solchen Expertendiagnosen als eine gesellschaftliche Einheit konstruiert, die nach Intervention, zuerst aber nach Analyse und genauem Studium verlangte. Hierfür mussten unterschiedliche Jugendliche zunächst gruppiert und individuelle Verhaltensformen zu Mustern und Typologien systematisiert werden. Weil das Thema Jugend mittlerweile als ein drängendes Problem der Gegenwart konstituiert worden war, versprachen Studien, die dies betrieben, auch außerwissenschaftliche Aufmerksamkeit in Medien und Politik und nicht zuletzt Gewinne auf dem Buchmarkt.26

Wenn also Armin Schmid 1965 im Nachwort zur Rowohlt-Anthologie schreibt, "daß soziologische Untersuchungen etwa in der Form von Umfragen allein nicht genügen, die ganze Realität zu erkennen, sondern daß eine Selbstdarstellung der Jugend manche überdeckte, nicht erfragbare innere Wirklichkeit darlegt und ihr tatsächliches Denken und Fühlen zeigt" (N, 173), dann wird eine Opposition zur skizzierten Beobachtungshaltung deutlich, die bereits implizit eine Aussage über die authentifizierende Leistung literarischer Form trifft. Sie vermag es, besser als die empirische Methodik der Sozialwissenschaften, Gedachtes und Gefühltes zu dokumentieren. Epistemisches Ziel der Anthologie ist es demnach, "die verborgene Sensibilität unserer Jugend" (N, 178) an die Oberfläche zu befördern. Es soll ein "Lernprozeß" in Gang gesetzt werden, "der nicht mehr durch bloße Intellektualisierung zum Übersehen mächtiger, emotionaler Reserven verführt, aus denen heraus wir eigentlich alle miteinander leben" (N, 179). Solche Literatur, sekundiert Rühmkorf, sei daher auch nicht vornehmlich auf ihren ästhetischen Wert hin befragbar. Vielmehr interessiere das Faktum der Selbstthematisierung. In den vorliegenden Texten nämlich gehe "Selbstdarstellung über in eine Art von Selbstdefinition" und dieser Umstand rücke eine Reihe von Fragen in den Mittelpunkt, die jenseits feuilletonistischer Kritikinteressen angesiedelt seien:

Wer spricht da als was? […] und: unter welchen Voraussetzungen? Wer erklärt sich wem und in wessen Tonfall? Wer äußert sich zu was für Bedingungen? Wer verhält sich wie gegenüber welchen Gegebenheiten? Daß wir solche Fragen bisher noch nicht zur Kenntnis genommen haben, des reinen Blicks auf ungetrübte Lüste wegen, sei uns in Anbetracht der säuberlich herauspräparierten Ewigkeitswerte verziehen; daß wir das überzeitliche Vergnügen trotzdem noch einmal auf die Erde zurückbeordern, im Hinblick auf die zu erwartenden Verhältniswerte, bitte auch nicht verübelt (Vo, 18).

In spöttischem Duktus adressiert Rühmkorf die Angehörigen einer Kulturelite, die es bislang versäumt hätten, sich auf adäquate Weise für die Belange junger Menschen zu interessieren. Auch Rühmkorf und Schmid interessieren sich dabei in Ansätzen für 'Ewigkeitswerte', also etwa für Gattungsfragen oder auch die Themen, die diese Literatur verhandelt ("Heim, Schule, Religion, Familie, Natur und Vaterland" – Vo, 18). Ihr Interesse richtet sich aber primär auf die Möglichkeit kollektivierender Identifikation, deren Etikettierung als Kennzeichnung jugendlicher Anklagebereitschaft dient: Immer wieder sprechen die Herausgeber vom "chorische[n] Charakter" (N, 175) der ausgewählten Literatur als deren zentrales Merkmal – "das Chorische […], der Übereinklang in bestimmten Vorwürfen ist nicht zu überhören" (Vo, 20). Der Klappentext der Anthologie steigert den Befund dann noch einmal und macht den identifikatorischen Impuls der Anthologie transparent. Diese sei zu verstehen als "Gruppendokument", dessen aggressive Tönung erst durch die Kollektivierung sinnfällig werden könne, denn "wo sich kritisches Aufbegehren eines Individuums vielleicht noch als subjektive Entgleisung abweisen ließe, da zeigt uns der Chor-Gesang, daß wir es mit den Anwürfen und Verwahrungen wirklich einer Generation zu tun haben."27 An dieser Stelle wird die performative Kraft der editorialen Beobachtung sinnfällig. Erst sie kann einzelne Stimmen zu einem Chor anordnen und dergestalt Evidenz für die These erzeugen, dass 'die Jugend' letztlich mit einer Stimme spreche. Diese Generation wird sich folglich als Akteurin, die die späten 1960er und die 1970er Jahre 'aufbegehrend' und aggressiv prägen wird, auch mithilfe von pädagogisch imprägnierten Literaturanthologien ihrer selbst bewusst.

Schmid und Rühmkorf stilisieren sich in den zitierten Aussagen folglich zu Alliierten dieser jungen Generation. Am Expertendiskurs der 1950er und frühen 60er Jahre kritisieren sie explizit die hierarchische Tektonik von Erhebung und Befragung. Die Herausgeber insinuieren demgegenüber, sie sprächen 'mit' den und nicht bloß 'über' die Jugendlichen, drängten deren Äußerungen doch im Grunde von selbst an die Öffentlichkeit.28 Allerdings lässt sich vor allem an Schmids Nachwort beobachten, dass es nicht damit getan sein soll, den alten Expertendiskurs zu desavouieren. Immer wieder rekurriert Schmid in seinen Ausführungen auf die Beobachtungen angesehener Forscher:innen und zitiert Autoritäten eines emanzipatorisch orientierten, gesellschaftlichen Diskurses, der für die zeitgenössische Pädagogik eine gewisse Strahlkraft besitzt, so etwa Adornos Essaysammlung Eingriffe (1963) oder Alexander Mitscherlichs sozialpsychologische Studie Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft aus demselben Jahr. Einen Dank richtet Schmid an den Psychoanalytiker Tobias Brocher, Leiter des Sigmund Freud-Instituts in Frankfurt am Main, der "freundlicherweise Einsicht in die Anthologie [nahm]." Gespräche mit Brocher "trugen zur Klärung mancher Frage von der fachlichen und psychologischen Seite bei" (N, 174). Schließlich zitiert Schmid mehrfach zustimmend den Band Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie (1964), ein Gemeinschaftsprojekt der zeitgenössisch und im Kontext der Kritischen Erziehungswissenschaft institutionell einflussreichen Fachpädagogen Carl Wolfgang Müller, Helmut Kentler, Klaus Mollenhauer und Hermann Giesecke. Die dort kodifizierten Diagnosen bieten eine Blaupause für das Anthologie-Projekt von Schmid/Rühmkorf. Mollenhauers Befund der "Unterdrückung" des "zentrale[n] Konflikt[s]", mit dem "die junge Generation" aufwachse, nämlich des "Konflikts zwischen der ihr suggerierten, ihr versprochenen oder von ihr hervorgebrachten Vorstellung einer besseren, freieren, glücklicheren Möglichkeit des Lebens einerseits und dem, was sie als dessen Rückhalt erfährt, andererseits" (N, 179), wird Kentlers Forderung zur Seite gestellt:

Die Jugendarbeit kann und darf nicht durch autoritären Druck ein Leistungsprinzip durchsetzen und dadurch Lernprozesse erzwingen – aber sie kann durch vernünftige Arbeitsmethoden den Willen zur Klärung und Spaß am Lernen wecken, und sie kann durch das Prinzip der Ästhetik ein Wissen von Schönerem und Besserem in die Köpfe junger Menschen einpflanzen (N, 177).29

Der in der Rowohlt-Anthologie kristallisierte, ästhetische Ausdruck, den die Herausgeber doch, trotz gegenteiliger Behauptungen, durch Aufforderungen allererst an die Öffentlichkeit bringen, wird dergestalt gelesen als geglückte Form einer Darstellung von jugendtypischen, und das heißt hier: authentischen Konflikten. Die Kommunikationssituation der editorialen Aufforderung erzeugt dabei allererst, was sie vorzufinden meint. In diesem Sinne sind die später dann literaturhistoriographisch kodifizierten Strömungen einer Neuen Subjektivität, diskursanalytisch betrachtet, zunächst strategische Manöver, um einem expertokratischen Beobachtungsregime zu entkommen, das die öffentlichkeitswirksame BRD-Soziologie der 1950er Jahre und ein ihr korrespondierender, boomender Sachbuchmarkt etabliert hatten: Literatur erweist sich hier als probates Medium, das den Zugriff auf Innerlichkeit, ein authentisches Selbst, auf Sensibilität besser verbürgen soll als der Fragebogen. Das "Gedicht" wird von Rühmkorf folglich explizit als "subjektiver Stimmungsträger" apostrophiert, "der es trotz guten hundert Jahren Antistimmungslyrik immer noch ist" und "als jenes Bekenntnisorgan, daß zwischen Affekt und Meinung keine Grenze ziehen muß und auf logische Begründung nicht angewiesen ist" (Vo, 16 f.). Dabei leiste die Gedichtform auch eine Orientierung im Sinne einer "Grenzziehung" und Bündelung von Energien. Vorgänge, die Rühmkorf in einem Gedicht von Ivonne Götzfried exemplifiziert findet:

Will mich klammern an Holz

will mich ritzen in Stein

damit ich nur so

und nicht anders kann sein

will mich glühen in Eisen

will mich zwängen in Stahl

damit ich niemals

mehr habe die Wahl

so oder so zu sein (Vo, 17).

Für wie immer geglückt man die editorialen Interpretationen der literarischen Jugendproduktionen halten mag,30 fest steht: An die Stelle des alten expertokratischen, von Sachbuchmarkt und Soziologie ins Werk gesetzten Regimes rückt keineswegs ein befreites, 'eigentliches', emanzipiertes Subjekt 'Jugend'. Vielmehr stellen die Texte der Primaner:innen Reaktionen auf eine neue, zugewandtere Form der Beobachtung dar, die sich aber gleichwohl erneut durch die Konsultation sozialwissenschaftlicher und psychologischer Expertise rückversichert. Permissive Expertokratie ersetzt repressive Expertokratie.

Es ist diese Doppelbödigkeit einer durch editoriale Macht erzeugten Sprechfähigkeit, die die Herausgeber der Lyrikanthologie Wir Kinder von Marx und Coca-Cola 1971 in einem Nachwort explizit aufrufen werden.31 Die Semantik des Chores lehnen sie zwar ab,32 gleichwohl aber wird konstatiert, dass "Psychologen, Soziologen, Pädagogen und Politologen ergiebiges Material in dieser Sammlung finden [können], denn die Grundzüge einer möglichen offenen Weltgesellschaft schimmern durch einige dieser Texte schon hindurch."33 Brunner, Juhre und Kulas liefern dann der Expertenriege noch die zentralen Schlagworte. Diese Generation verhalte sich "aggressiv oder ausgeflippt", agiere "indifferent", aber auch "politisch oder religiös in ihren Haltungen und Äußerungen"; ihre Lyrik nehme Bezug auf Sexuelle Revolution, Rauscherfahrung, hohe Mobilität sowie Informations- und Publikationsfreiheit. Dass auch die Herausgeber den Expertendiskurs in permissiver Hinsicht bedienen, versteht sich; gefragt wird explizit "nach der gesellschaftlichen Funktion eines stellvertretenden Sprechens für die Stummen und Verbitterten, Erniedrigten und Beleidigten." Adornos berüchtigtes und notorisch falsch verstandenes Diktum zum Verbot lyrischer Produktion nach Auschwitz wird von den Herausgebern in diesem Sinne gegen den Autor gewendet. Gerade weil der Band auf einschlägige Weise die westdeutsche Jugend zum Sprechen bringe und weil in ihm "Ideologiekritik […] als ein Mittel erkannt" werde, "die Sinnfrage zu aktualisieren", steht für Brunner, Juhre und Kulas fest, dass es "barbarisch" wäre, "das Schreiben von Gedichten aussetzen oder moralisch diskreditieren zu wollen."34

Damit sind binnen weniger Jahre die Schüler:innen und Student:innen selbst zu sprechfähigen, editorialen Instanzen aufgestiegen, die die Produktion ihrer Generationsgenoss:innen mit den entscheidenden Stichworten authentifizieren: Gehört der Lektor Arnim Juhre (1925–2015) noch der Generation Rühmkorf/Schmid an, so sind Frank Brunner (*1949), der Initiator der Anthologie, und Heinz Kulas (*1941) ehemalige Primaner, die schon in den Genuss permissiver Beobachtung und Aufforderung kommen konnten.

3. Um 1980: Artikulationen des Alternativmilieus (Verständigungstexte bei Suhrkamp)

Im Jahr 1980 publiziert Hadayatullah Hübsch das Buch Alternative Öffentlichkeit. Freiräume der Information und Kommunikation bei S. Fischer in der Reihe fischer alternativ. Der Text liest sich über weite Strecken als Absage an die Möglichkeit literarischer Expressivität. Dies aber nicht im Sinne einer Rückkehr zu einer ästhetizistischen Perspektive auf Literatur, sondern mit Blick auf den Imperativ der Authentizitätssteigerung:

In der Tat aber wickelt sich nur ein Bruchteil alternativer Kommunikation über Worte ab. Viel wichtiger ist das 'feeling', sind die 'vibrations', ist das spontane Empfinden von Sympathie oder Antipathie, ist das unbewußte oder aufmerksame Reagieren auf Accessoires alternativer Öffentlichkeit […]. Wichtiger sind das Gefühl, angemacht oder verstanden zu werden, ein Lächeln, einen offenen Blick […] oder eine bestimmte Bewegung akzeptieren oder verneinen zu können. Wichtiger also als Vernunftargumente sind emotionale Momente […].35

Mit der Fokussierung auf Gefühl und Stimmungen erweist sich Hübsch, ähnlich wie Brunner und Kulas, als gelehriger Schüler jener Pädagogen, denen es Mitte der 1960er Jahre um die Mobilisierung 'emotionaler Reserven' (Armin Schmid) von Schüler:innen mittels Literaturabfrage gegangen war. Vor seiner Konversion zum Islam, als Hübsch noch den an deutsche Dichtertradition gemahnenden Vornamen Paul Gerhard (geschrieben auch: Paul-Gerhard) trug und als Schüler das Gymnasium in Oberursel besuchte, wählten Rühmkorf und Schmid gleich drei seiner Gedichte für Primanerlyrik – Primanerprosa aus. In der von Brunner, Juhre und Kulas kuratierten Anthologie war der inzwischen auch als p. g. hübsch erfolgreiche Underground-Poet und Verleger dann ebenfalls vertreten.

Literatur bleibt im Alternativmilieu eine wichtige Ressource der Information, der Selbst- und Fremddarstellung. Das belegen zahlreiche Szenezeitschriften, Magazine, Bücher und Kleinformen, die im Milieu zirkulierten. Aber für jenen 'Bruchteil' an Wortkommunikation sollte gelten, was Michael Rutschky in seiner Zeitdiagnose Erfahrungshunger, im selben Jahr publiziert wie Hübschs 'Szeneführer', konstatiert hatte: "Das könnte man zur Bedingung dieser Texte erklären: daß sie sich nicht als literarische Erfindungen inszenieren. Nur dann gewinnen sie jene körperliche Überzeugungskraft."36 Eine Überzeugungskraft nämlich, die spontanes Empfinden und das Gefühl von Verständigung zu erzeugen in der Lage ist. Im Alternativmilieu zirkuliert um 1980 ein Genre, das den Imperativ in eine Bezeichnung umgemünzt hat: die 'Verständigungstexte'.

Der Suhrkamp-Verlag hatte 1978 damit begonnen, eine Reihe von Anthologien zu publizieren, in denen sich in einem 'Patchwork der Minderheiten'37 Repräsentant:innen sozial unterschiedlich markierter und mitunter auch marginalisierter Gruppen (Therapeut:innen, Männer, Frauen, Gefängnisinsassen, Drogenkonsument:innen, Schüler:innen, Lehrer:innen u. a.) als Teil dieser Gruppen literarisch zu Wort meldeten.38 Einem Nachwort Hans-Ulrich Müller-Schwefes, Suhrkamp-Lektor und selbst Teil des Initiator:innenkollektivs der Reihe, ist der Aufforderungstext zu entnehmen, den Peter Sloterdijk, ebenfalls Herausgeber einer der Anthologien, 1976 formuliert hatte:

Verständigungstexte markieren, wenigstens was den Grad an Ausdrücklichkeit in dieser Funktion anbelangt, eine neue Qualität im kommunikativen Charakter von Literatur, weil sie nicht in einer 'teuren' Kunstsprache unheinholbare Vorsprünge an episch-mächtiger oder lyrisch-vertiefter Welterfahrung ausbreiten, sondern sich mit aller Bewußtheit an dasjenige wendet, was schon 'beinahe-selbstgesagt' im Vorbewußten oder selbst im Bewußten der Leser bereitliegt; dies ist eine Literatur, die sich ganz bewußt auf Differenzierung von Erfahrung beruft, aber nicht, um den Leser zu distanzieren und ihm fremden Reichtum vorzuführen; diese Literatur will in ihrem Gehalt vom Leser eingeholt werden, sie will ihren kurzfristigen Formulierungsvorsprung gerne an den richtigen Leser verlieren, der sich, angeregt durch die gebrauchsautobiographische Selbstdarstellung des Schreibenden, über sich selbst beugt, seine Assoziationen herbeibringt und sich selbst seinen Reim auf das Gelesene macht. Verständigungsliteratur löst nicht literaturkritische Antworten aus, sondern provoziert Rede und Gegenrede aus anderer eigener Erfahrung: Der Leser stellt sich neben den Textvorwurf und sagt: Ich-auch, Ich-anders, Ich-ergänzend, Ich-fragend.39

Literatur soll auf diese Weise als genuines Medium von Erfahrung begreiflich gemacht werden. Literarische Formulierungen sind dem, was die Rezepient:innen ohnehin zu sagen hätten, nur zeitlich, nicht aber qualitativ voraus. Erfahrung, so scheint es, ist das, worüber alle als Mitglieder gesellschaftlicher Gruppen in spezifischer Weise verfügen und was dementsprechend ohne viel Aufwand und ohne Rekurs auf elaborierte Darstellungsverfahren allen zur Verfügung gestellt werden kann.

Die 'andere eigene Erfahrung', die Sloterdijk im Blick hat, verhehlt dabei aber bisweilen nicht, wie und wo sie formatiert wurde. Aufschlussreich sind hier die Aufsätze des Bandes Der Ernst des Lebens, weil ihnen poetologische Äußerungen der Autor:innen nachgestellt sind. So äußert sich Ulrich Zimmermann, der einen Prosatext mit dem Titel Ach guck mal an, der Herr Sohn hat eine Meinung beigesteuert hat:

Schreiben ist – seit zwanzig Jahren – ein wichtiger Teil meines Lebens. Als Achtzehnjähriger habe ich darin die einzige Möglichkeit gesehen, den Leidensdruck extremer Vereinsamung zu mildern. […] Die Texte, die ich damals und in den Jahren danach schrieb, gaben verschlüsselt Nachricht über meinen Zustand. Verantwortlich für das Bemühen, die Ansprüche bestimmter Kunst-Formen zu erfüllen, war einerseits der Deutschunterricht der 'höheren' Schule sowie die spätere Beschäftigung mit Literatur im Pädagogikstudium, andererseits aber sicher auch die Scham, einen Leser über meine Probleme und Schwierigkeiten mit mir selbst direkt in Kenntnis zu setzen. Heute, mit Achtunddreißig, habe ich den Mut, mich zu entblößen, ich zu sagen, wenn ich mich meine.40

Diese Formatierungsgeschichte ist die Geschichte einer Mobilisierung emotionaler Reserven, die, begleitet von pädagogischer Beobachtung, den Weg von der Verschlüsselung zur Entblößung zurückgelegt hat. 'Um 1980' ließe sich damit als Endphase einer Konjunktur begreifen, die gut eineinhalb Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. Ein für die Geistesgeschichte der BRD zentraler Verlag instituiert unter Rückgriff auf gegenöffentlich zirkulierende Formate der alternativen Szene eine literarische Reihe, deren Ziel es ist, literarische Form im Namen der Überwindung von persönlicher Scham und der Bereitschaft zur Entblößung auf direkte Kommunikation zu programmieren.

Dass es dabei erneut editorialer Intervention und Aufforderung bedarf, dass also auch hier editoriale Macht die programmatisch konstitutive Freimütigkeit der Rede unter disziplinierende Beobachtung stellt, überrascht angesichts des nachdrücklichen Authentizitätsgebots nicht. Ma Sunder Utsavo, alias R[enate] Wiesmann, berichtet, wie sie auf einem Autor:innentreffen, das der Vorbereitung des Bandes dienen sollte, Erfahrungen machte und dann den Begutachtungsprozess des eigenen Beitrags erlebte:

Ruth und Hartmut hatten mich zum Werkstatt-Wochenende im vorigen Frühjahr eingeladen. Ich hatte noch nie an so etwas teilgenommen. Ich fühlte mich wohl und zugleich fremd unter denen, die lässiger über die Texte anderer redeten. Danach schrieb ich einen Beitrag für das Buch, der mich durch die letzten Jahre jagte, aber nicht viel von mir zu erkennen gab. Ruth sagte mir das auch, die Kritik konnte ich annehmen. Bei dem Ablehnungsgespräch bat ich Ruth, einen Brief zu lesen, den ich an einen Mann geschickt hatte, der mir zur Zeit viel bedeutet. Nachdem Ruth den Brief gelesen hatte, war sie der Meinung, der sagt viel mehr über mich aus, als alles abstandhaltende Reflektieren. Sie regte an, ich sollte doch versuchen festzuhalten, was nach so einem Brief, in dem alle Widersprüche offenliegen, mit mir selbst und dem anderen geschieht. Festzuhalten, ob wir eigentlich weiter und glücklicher sind als in unseren Mädchenjahren, oder ob dieses Weiter-Sein uns in Verbindung mit Männern eher traurig macht.41

Neue Subjektivität wird verstehbar als Resultat externer Forcierung. Dabei ist der expertokratische Blick vollkommen internalisiert. Es ist die dem gleichen Milieu zugehörige Herausgeberin, die feststellt, welche Literatur 'etwas' und das heißt 'etwas über' die Autorin aussagt und welche Literatur 'auf Abstand' bleibt und deshalb auf Abstand gehalten werden muss.

Im Rückblick auf die 1970er und frühen 1980er Jahre hatte Diedrich Diederichsen, einer ihrer ersten Historiographen, von einem "Zeitalter maximaler Permissivität"42 gesprochen. Am editorialen Aufforderungsdiskurs der Verständigungstexte lässt sich beobachten, dass diese Permissivität immer eine bedingte war. In Anlehnung an eine Formulierung Heinrich Bosses, der sie zur Analyse des Aufklärungsdiskurses gebrauchte, ließe sich von 'geschärften Aufforderungen zur Selbstthematisierung' sprechen.43 Um 1980 ist hier insofern ein Maximum erreicht, als deutlich wird, dass das Selbst nicht spricht, wenn es zur Selbstthematisierung aufgefordert wird, sondern dass sich Authentifizierungsmuster verfestigt haben, die jeder, der 'ohne Abstand' sprechen möchte, zu bedienen hat. Damit hatte sich die authentische Kommunikation in eine Aporie begeben, die dazu beigetragen haben mag, dass das Genre der Verständigungstexte im Laufe der 1980er Jahre an Attraktivität verlor und heute als historischer Gegenstand adressiert werden kann.

4. Heute: Re-Ästhetisierungen (Flexen. Flaneusen* schreiben Städte (2019))

Die Konjunkturen eines Bedürfnisses nach authentischer literarischer Kommunikation korrelieren mit dem Versuch, in emanzipatorischer Absicht mitunter marginalisierte Gruppen zu literarischer Produktion zu animieren, die im Zuge dessen sich selbst identifizieren und authentifizieren. So offensichtlich das für die Zeit zwischen ca. 1965 und 1980 ist, so offensichtlich ist es für eine Gegenwartsliteratur im engeren chronologischen Sinne. Das erkennt man nicht zuletzt an einer breiten kulturfeuilletonistischen Publizität, die dem Umstand Rechnung trägt, dass spätestens seit dem 'Eribon-Schock'44 von 2016 und den Debatten im Kontext der #MeToo-Bewegung(en) 2017ff. vermehrt erfolgreich Texte publiziert werden, für die sich in der zeitgenössischen Germanistik mit atemberaubendem Tempo die Bezeichnung 'Autosoziobiographie' durchgesetzt hat.45 Auf dem Buchmarkt floriert entsprechend eine autobiographisch bis autofiktionale, um Themen wie Genderidentität, Postmigration und Klassenzugehörigkeit bemühte Literatur, die Bestsellerlisten dominiert und mit Buchpreisen bedacht wird.

Die diese Entwicklungen begleitende Publizität verhandelt die Kategorie der Authentizität häufiger als Frage nach der ethischen Valenz literarischer Äußerungen in Relation zu den sprechenden Personen und sie macht sich folgerichtig Gedanken über die vergemeinschaftende Attraktivität von 'Ich-Texten'.46 Kulturfeuilletonistische Kritiker:innen dieser Orientierungen der Gegenwartsliteratur sehen indessen die 70er Jahre erneut heraufdämmern. Unter Rekurs auf Hans Magnus Enzensbergers berüchtigte Thesen vom 'Tod der Literatur' im Jahr 1968, die sich u. a. auf das angebliche darstellerische Versagen genuin literarisch-ästhetischer Strategien bezogen, erlaubt sich Lothar Struck eine Aktualisierung:

Jenseits der banalen Feststellung, dass die Beachtung von Literatur aufgrund von Umwälzungen in den medialen Angeboten der letzten Jahrzehnte zwangsläufig Konkurrenz bekommen hat, kann man seit einiger Zeit eine Re-Vitalisierung der These von der Nutzlosigkeit von ästhetisch anspruchsvoller Literatur feststellen.47

Von einem "Absturz des literarischen Anspruchs zu Gunsten der Bedienung politisch-moralischer Pseudo-Relevanzen hin zum Polit- respektive Sozialkitsch" ist dann noch die Rede und davon, dass die Verlage "in ihren Vorschauen […] die Qualität ihrer Publikationen immer stärker auf außerliterarische Bezüge wie Herkunft und Geschlecht oder auch das politische Engagement des Autors sowie die moralische Intention des Textes"48 zurückführen würden. Zu solcher Polemik mag man sich stellen, wie man will. Erkennbar werden lässt sie, dass hier eine 'formal anspruchsvolle' gegen eine auch strategisch auf Kommunikation als Verständigung orientierte Literatur ausgespielt werden soll. Struck rekurriert hier auf den für diese Oppositionsbildung wichtigen und breit rezipierten Text von Moritz Baßler, Der neue Midcult.49

Alles also schon dagewesen? Erleben wir, sekundiert von akademischen Bestsellern wie Philipp Sarasins 1977 und Helmut Böttigers Die Jahre der wahren Empfindung, eine Reprise der Literatursituation post 68? Ist es demnach eine Frage der Zeit, bis man sich erneut in der Aporie einer editorialen Erzeugung authentischer Kommunikation wiederfinden wird? Es spricht einiges dagegen. Der digitale Medienumbruch hat ein Bewusstsein für eine Form von Authentizität geschaffen, die sich nicht mehr ohne weiteres als eine Art von Innerlichkeit apostrophieren lässt. Exemplarisch sei eine Selbstbeschreibung Nora Zapfs zitiert, die ihr Schreiben im Kontext der Plattformfeatures Wall/Timeline beobachtet:

Selbstbeziehung ist im Internet vordergründig, das Ich bekommt Profilbild, Hintergrund, Status mit Klarnamen oder Pseudonymen zugeschrieben. Doch an der eigenen Wall, im eigenen Feed wirken auch die anderen mit, die eigene Seite kann man nie allein erschaffen. Man führt meist nicht mal Regie, es passiert eben einfach etwas. Das Ich wird so zur Kommunikations- und Reflexionsfläche, Identität zum Experimentierfeld.50

Ein zu Bedingungen digitaler Medialität operierendes Schreiben hätte sich endgültig von der Auffassung verabschiedet, es könnte noch einmal wie in den zuvor analysierten Konstellationen um authentische Selbstthematisierung im Sinne eines privatisiert Eigenen gehen – und muss das nicht durch Aporien editorialer Aufforderung zum authentischen Schreiben erst lernen. Die authentische literarische Rede wird als eine immer schon vergemeinschaftete apostrophiert: "Meine Texte, in denen ein anderes Personalpronomen [als das Personalpronomen 'ich', C. B.] die Federführung übernimmt, haben deshalb einen besonders persönlichen, authentischen, autobiografischen Status für mich, weil sie eben nicht nur meinen Entwurf von mir selbst, sondern auch meinen Entwurf der Umwelt enthalten", schreibt Paula Fürstenberg, und weiter:

Von welchen Gruppen ich als wir spreche und von welchen als ihr, wem ich mich zugehörig fühle und wen ich als fremd entwerfe, wen ich duze, wen ich sieze und mit wem ich gar nicht spreche: All das scheint mir weit mehr über mich zu erzählen als jede Ich-Aussage es je könnte.51

Authentifizierung kann sich in der Gegenwartsliteratur also gerade über ein Zusammenfallen von Selbst- und Fremdreferenz ereignen. Das ist im Rahmen dieser Programmatik dann die Bedingung für gelungene Repräsentation. Anstatt vorauszusetzen, dass es in solcher Literatur dann keinen 'literarischen Anspruch' geben könne, wäre hier gerade nach den Form-Verfahren zu fragen, die den etablierten editorialen Settings anthologischer Authentizitätsproduktion neue Facetten hinzufügen. Am Beispiel eines editoralen Peritexts soll ein solcher Formgewinn abschließend rekonstruiert werden.

2019 geben Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer im Berliner Verbrecher-Verlag die Anthologie Flexen. Flâneusen* schreiben Städte heraus. In Anlehnung an Lauren Elkins Versuch einer Revision des Flânerie-Konzepts suchen die 30 Autor:innen des Bandes literarische Zugänge zu Arten und Weisen, "Frauen*, PoC oder queere[] Menschen"52 als Personen darzustellen, die sich urbane Räume aneignen. Das Vorwort der Anthologie konstruiert zu diesem Zweck ein Verfahren, das anzeigen soll, dass es sich dabei um ein Projekt handelt, dass also noch nicht realisiert ist, was die Anthologie imaginiert. Die Autor:innenschaft des Vorworts ist wie folgt markiert: "Die Flâneuse* mit den Herausgeberinnen". Darauf folgt ein Text, der einerseits typische Funktionen des Peritexts 'Vorwort' übernimmt, also in das Thema des Bandes einführt, gleichzeitig aber eine unsichere Referenz erzeugt, insofern in ihm nicht das Personalpronomen 'Wir', wie man angesichts der pluralen Autor:innenschaft vermuten könnte, sondern der Singular 'Ich' Verwendung findet. Das liest sich dann so:

In jedem der Texte, die in diesem Buch versammelt sind, findet sich eine neue Facette von mir. Ich bin die Mutti, die den Kinderwagen schiebt, Beobachterin der Straße. Ich bin der Mann, der seinen Vater verloren hat. Ich bin die Frau, die auf der Straße trödelt aus Protest. Ich bin die Frau, die protestieren geht, deren Füße im Alltag Mahnmale berühren, die anhält und darüber schreibt. Ich bin diejenige, die geschunden wurde und nachts durch die Straßen geht, um sich wieder sicher zu fühlen. Ich laufe durch Gebiete, in denen Krieg herrscht. Ich bin diejenige, die den Krieg in ihren Erinnerungen mit sich trägt. Ich höre genau hin. […] Durch mich läuft der Rhythmus der Stadt. Ich bin die Bouncerin im Club deiner Wahl. Ich wandle zwischen den Geschlechtern und ihren Vorstellungen, auf der Suche nach Sex, auf der Suche nach nichts Bestimmten, ich bin überall auf der Welt und laufe und laufe und laufe. Und ich schreibe darüber. In Romanen, in Gedichten, in Reportagen, in Essays. Ich bin da. War ich schon immer. Ich existiere. Und ich möchte gesehen werden. Meine Anwesenheit soll dokumentiert sein. Ich möchte euch einladen, mich auf meinen Streifzügen zu begleiten, die Städte mit meinen Augen zu sehen, selbst auf die Straße zu gehen und darüber zu schreiben, was ihr denkt und fühlt, was ihr seht und fühlt.53

Am Muster der editorialen Aufforderung geschult ist die Einladung, die gegen Ende der Passage ausgesprochen wird. Sie bezieht, analog etwa zum Verfahren Sloterdijks u. a., auch anonyme Leser:innen in den Diskurs des Textes mit ein. Was aber, anders als in den Peritexten der Anthologien aus dem 'Zeitalter maximaler Permissivität' (Diederichsen) vorliegt, das ist die offensichtliche Lizenz zur Fiktionalisierung einer Sprechposition. Rhetorisch handelt es sich um eine Ethopöie. Ihre Leistung ist "die Darstellung von Charakterzügen durch Rede. Dabei kann es sich sowohl um den Charakter des Redners selbst handeln als auch um den fiktiver oder historischer Personen in Form einer nachahmenden Rede."54 Auffällig ist, dass das Vorwort die in der Definition getrennten ontologischen Bereiche durch sein Verfahren zusammen führt. Das 'Ich' suggeriert einerseits eine Personalität, die von der Anzeige der pluralen Autor:innenschaft unterlaufen wird, sich also als Fiktion erweist. Teil dieser Pluralität ist andererseits die Flâneuse*, deren Markierung anders als die Namen der peritextuell auf dem Cover verbürgten Herausgeberinnen auf einen Kollektivsingular referieren kann. Die Herausgeberinnen stellen dann ihre Autorinnenschaft in den Dienst dieses Kollektivsingulars, fungieren als Schreibhilfen einer Instanz, die, wie das Vorwort es vorführt, immer schon in multiplen Schreibverfahren gegenwärtig sein soll und damit ohnehin in den Texten der Herausgeberinnen vorhanden ist, die sich auch in der Anthologie finden. Dündar, Göhring, Othmann und Sauer invertieren folglich das Verfahren einer Aufgabe des Personalpronomens 'Ich', das von Fürstenberg präferiert wird, um den Preis einer Fiktion, deren Decodierung geleistet werden muss.

Die anthologische Produktion von Authentizität beteiligt sich an einer Aushandlung 'gesellschaftlicher Hegemonien' (Foucault), indem sie emanzipationsbereiten, mitunter marginalisierten Gruppen und Individuen zu literarischer Publizität und damit zu mehr Sichtbarkeit verhilft, zugleich aber immer auch die Verfahren authentischen Sprechens reguliert und observiert. Das kristallisiert sich im Falle der Anthologie in den Formen einer bisweilen pädagogisch orientierten, editorialen Aufforderung und einer dazugehörigen peritextuellen Rahmung. Während sich die Literatur des 'maximal permissiven Zeitalters' unter dem Label der 'Neuen Subjektivität'/'Neuen Sensibilität' in die Aporie hineinmanövriert, dass Authentifizierungsmuster den Anspruch authentischer Kommunikation dekonstruieren, lassen sich in der gegenwartsliterarischen Konjunktur authentischer, literarischer Kommunikation Formexperimente ausmachen, die ihrerseits die simple Oppositionsbildung von 'Anspruch' und 'Verständigung' unterlaufen.

Notes

  1. Erik Schilling, Authentizität. Karriere einer Sehnsucht (München: C.H. Beck, 2020), 10; vgl. ferner etwa Christian Dinger, Die Aura des Authentischen. Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Göttingen: V & R unipress, 2021); Berit Callsen, Hg., Authentizität transversal: Multiperspektivische Betrachtungen von 'Echtheit' (Berlin: Frank & Timme, 2021). [^]
  2. Vgl. für die philosophie-, ästhetik- und rhetorikgeschichtliche Rekonstruktion des Begriffs die Artikel von Kurt Röttgers und Reinhard Fabian, "Authentisch", in Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A–C, hg. v. Joachim Ritter (Basel, Stuttgart: Schwabe, 1971), Sp. 691f.; Edzard Krückeberg, "Authentizität", in Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A–C, hg. v. Joachim Ritter (Basel, Stuttgart: Schwabe, 1971), Sp. 692f.; Susanne Knaller und Harro Müller: "Authentisch/Authentizität", in Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 7: Supplemente, Register (Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005), 40–65; Anne Ulrich, "Authentizität", in Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 10: Nachträge A–Z, hg. v. Gert Ueding (Berlin, Boston: De Gruyter, 2012), Sp. 79–91. [^]
  3. Vgl. Knaller und Müller, "Authentisch/Authentizität", 55–57. [^]
  4. Christoph Zeller, Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970 (Berlin, New York: De Gruyter, 2010), 4. [^]
  5. Zur Unterscheidung Subjekt-/Objektauthentizität vgl. Susanne Knaller, Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs (Heidelberg: Winter, 2007), 8. [^]
  6. Helmut Lethen, "Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze", in Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, hg. v. Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1996), 209. [^]
  7. Vgl. etwa Antonius Weixler, "Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt", in Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption, hg. v. dems. (Berlin, Boston: De Gruyter, 2012), besonders 12. [^]
  8. Dass man sich dieser Konjunktur durchaus bewusst ist, dokumentieren nicht zuletzt die populären Sachbücher von Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart (Berlin: Suhrkamp, 2021) und Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur (Göttingen: Wallstein, 2021). [^]
  9. Vgl. nur Thomas Anz, "Neue Subjektivität", in Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. v. Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač, 2., neu bearb. Aufl. (Tübingen: Niemeyer, 1994), 327–30; Peter Beicken, "'Neue Subjektivität': Zur Prosa der siebziger Jahre", in Deutsche Literatur in der Bundesrepublik seit 1965, hg. v. Paul Michael Lützeler und Egon Schwarz (Königstein: Athenäum, 1980), 164–81. [^]
  10. Vgl. Susan Sontag, "Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise (One Culture and the New Sensibility)" [1965], in Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, hg. v. ders., übers. v. Mark W. Rien, 12. Aufl. (Frankfurt/Main: Fischer, 2022 [1982]), 342–54; für die politische Deutung des Konzepts ist zentral Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, übers. v. Helmut Reinicke und Alfred Schmidt (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1969), besonders 43–76. Vgl. auch Zeller: Ästhetik des Authentischen, 243f. [^]
  11. Prominent wird diese Perspektive etwa bei Oskar Negt und Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1972) entfaltet. [^]
  12. Rudolf zur Lippe, "Objektiver Faktor Subjektivität", Kursbuch 35 (1974), 4. [^]
  13. Lediglich erwähnt sei an dieser Stelle, dass der Erfahrungsimperativ für den Diskurs der kreativen Ökonomie im Kontext der US-amerikanischen Creative-Writing-Programme spätestens nach 1945 einschlägig ist. In transatlantischer Perspektive wäre zu prüfen, ob und inwiefern dieser Imperativ im deutschsprachigen literarischen Feld vor der vergleichsweise spät erfolgten Etablierung von Literaturinstituten und außerhalb ihrer bereits Fuß gefasst hatte. Hier drängt sich die Beobachtung auf, dass das Konjunkturhoch der Kategorie ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Westdeutschland immer schon an politische Fragen der Repräsentation gekoppelt war – zu denken wäre exemplarisch etwa an den 'Werkkreis Literatur der Arbeitswelt'. Zum Konzept von 'experience'/'authenticity' im Sinne der ubiquitären schreibpädagogischen Aufforderung "write what you know" vgl. Mark McGurl, The Program Era. Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing (Cambridge, London: Harvard University Press, 2009), 23 u. 77–125; zur Gegenwartsdebatte vgl. Kevin Kempke, "Get a Life! Zur Biografie als Ressource literarischer Produktivität", in Institutsprosa. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf akademische Schreibschulen, hg. v. dems., Lena Vöcklinghaus und Miriam Zeh (Leipzig: Spector Books, 2019), 56–81. [^]
  14. Zur Systematik vgl. Dirk Rose, "Anthologische Literaturgeschichte. Synopse eines Forschungsfeldes (mit vier Fallbeispielen)", Euphorion 116 (2022), besonders 44–46. Demnach handelt es sich bei den in der vorliegenden Argumentation präsentierten Textsammlungen um "programmatische[] Anthologie[n]" (46), insofern sie nicht einer retrospektiven Fixierung literaturgeschichtlicher Epochen, sondern der Setzung neuer Perspektiven verpflichtet sind. [^]
  15. Michael Niehaus, Was ist ein Format? (Hannover: Wehrhahn, 2018), 54. Zu den unterschiedlichen Funktionen des Formats ("Ordnung", "Autorisierung", "Verortung", "Kontextualisierung", "Vermarktung" und "Sicherung") vgl. Dirk Rose, "Exkurs: Anthologien als Medienformate. Vorschläge zu einer Systematisierung", in Anthologieserie. Systematik und Geschichte eines narrativen Formats, hg. v. Kilian Hauptmann, Philipp Pabst und Felix Schallenberg (Marburg: Schüren, 2022), 34. [^]
  16. Vgl. dagegen Reinhard Baumgart, "Authentisch schreiben. Deutsche Literatur der 70er-Jahre", in Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Rolf Grimminger und Jurij Murašov (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995), 608–36. [^]
  17. Anstatt also die Bedeutung von 'Erfahrung' als historische Fundamentalkategorie vorauszusetzen, ginge es mit Joan W. Scott um ein "turning attention […] to the history of foundationalist concepts themselves". Joan W. Scott, "The Evidence of Experience", Critical Inquiry 17 (1991), No. 4, 796. [^]
  18. Vgl. zum Prinzip der "Produktion von Erfahrung" im Alternativmilieu Karl-Heinz Stamm, Alternative Öffentlichkeit. Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewegungen (Frankfurt/Main, New York: Campus, 1988), 170. [^]
  19. Damit wäre der Aspekt der Rezeptionslenkung aufgerufen, der für das Paratext-Konzept zentral ist, vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, übers. v. Dieter Hornig (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001), 9. Zum Peritext 'Vorwort' und seiner einheitsstiftenden Funktion vgl. Genette, Paratexte, 195–99. [^]
  20. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (Berlin: Suhrkamp, 2014), 67. [^]
  21. Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1983), 93. [^]
  22. Armin Schmid und Peter Rühmkorf, Hg., Primanerlyrik – Primanerprosa. Eine Anthologie (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1965). Zitiert werden im Folgenden jeweils im Haupttext das Vorwort von Peter Rühmkorf mit der Sigle Vo und Seitenzahl in Klammern sowie das Nachwort von Armin Schmid mit der Sigle N und Seitenzahl in Klammern. Vgl. zum "Transparenzimperativ einer aufklärerischen Herstellung von Öffentlichkeit" um 1968 Gesa Frömming und Georg Stanitzek: "Öffentlichkeit – Veröffentlichen – Öffentlichkeit Herstellen: Einleitung", Sprache und Literatur 49 (2020), H. 121, 7. [^]
  23. Vgl. Philip Jost Janssen, Jugendforschung in der frühen Bundesrepublik. Diskurse und Umfragen (Köln: Zentrum für Historische Sozialforschung, 2010) (HSR Supplement 22) [PDF-Dokument: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-285862]. [^]
  24. Vgl. Janssen, Jugendforschung, 14. [^]
  25. Bodo Mrozek, Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte (Berlin: Suhrkamp, 2019), 283. [^]
  26. Mrozek, Jugend – Pop – Kultur, 287f. [^]
  27. "Zu diesem Buch", in Armin Schmid und Peter Rühmkorf, Hg., Primanerlyrik – Primanerprosa. Eine Anthologie. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1965), 2. [^]
  28. So beginnt der Klappentext mit den Worten: "An Büchern über Verhaltensmuster und Bewußtseinsformen unserer Jugendlichen ist kein Mangel. Was alles hat man nicht untersucht, um ihnen auf die Sprünge zu kommen. Was nicht an Suggestivfragen gestellt, um von angeblichen Heimlichkeiten auf unheimliche Tatbestände zu schließen. Nur, daß diese Jugend mit dem, was sie bewegt ständig expressis verbis ins Öffentliche strebt und der Erwachsenenwelt sich auch unbefragt erklärt, das scheint der Aufmerksamkeit der auf alles Schlimme gefaßten Erwachsenen bislang entgangen"; Schmid und Rühmkorf, Primanerlyrik – Primanerprosa, 2. [^]
  29. Originalzitate bei Klaus Mollenhauer, "Versuch 3", in Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie, hg. v. C. Wolfgang Müller, Helmut Kentler, dems. und Hermann Giesecke (München: Juventa, 1964), 118 und Helmut Kentler, "Versuch 2", in Was ist Jugendarbeit? Vier Versuche zu einer Theorie, hg. v. C. Wolfgang Müller, dems., Klaus Mollenhauer und Hermann Giesecke (München: Juventa, 1964), 61. [^]
  30. Rühmkorf zitiert immer wieder ausgewählte Texte der Primaner:innen, die aber eher in loser Beziehung zu seiner Argumentation stehen. [^]
  31. Auch diese Anthologie folgt dem Prinzip anonymer editorialer Aufforderung, wenngleich der Aufruf etwas weniger gerichtet unter dem Kennwort "Lyrik 1970" vom Verlag Peter Hammer öffentlich annonciert, also nicht unmittelbar bzw. ausschließlich an Schülerzeitungen adressiert worden war. Im Zentrum stand demnach "die Sammlung von Gedichten […], deren Autoren nicht älter als vom Jahrgang 1945 sein sollten. […] Ende März 1970 lagen […] 11638 Texte von 1247 Einsendern vor, die den Bedingungen des Ausschreibens entsprachen"; Frank Brunner, Arnim Juhre und Heinz Kulas, "Nachwort", in Wir Kinder von Marx und Coca-Cola. Gedichte der Nachgeborenen. Texte von Autoren der Jahrgänge 1945–1955 aus der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz, hg. v. dens. (Wuppertal: Peter Hammer, 1971), 178; abgedruckt wurden letztlich 226 Texte von 126 Autor:innen. Es handelt sich hier um den seltenen Fall einer BRD/DDR-Doppelanthologie, da der Verlag zeitgleich in der DDR den Band Ich nenne euch mein Problem (hg. v. Bernd Jentzsch) veröffentlichen durfte. – Für diesen Hinweis danke ich Marlene Kirsten (Bonn). [^]
  32. So sei es "offenkundig, daß die 1945 bis 1955 Geborenen keineswegs wie mit einem Munde sprechen"; Brunner, Juhre und Kulas, "Nachwort", 179f. [^]
  33. Brunner, Juhre und Kulas, "Nachwort", 180. [^]
  34. Brunner, Juhre und Kulas, "Nachwort", 180. [^]
  35. Hadayatullah Hübsch, Alternative Öffentlichkeit. Freiräume der Information und Kommunikation (Frankfurt/Main: S. Fischer, 1980), 20f. [^]
  36. Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre (Köln: Kiwi, 1980), 122. [^]
  37. Vgl. Jean-François Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten, übers. v. Clemens-Carl Haerle (Berlin: Merve, 1977). [^]
  38. Bis Mitte der 1980er Jahre werden um die zehn Bände bei Suhrkamp publiziert vgl. den Verlagsprospekt Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Verständigungstexte und andere Erstausgaben, Redaktionsschluß 20.12.81. 1/82 (99732). [^]
  39. Zit. n. Hans-Ulrich Müller-Schwefe, "Hinterher", in Männersachen. Verständigungstexte, hg. v. dems., 2. Aufl. (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1980 [1979]), 212. Vgl. zum Stil der Aufrufe und Selbstdarstellungen im Alternativmilieu auch Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, 280–84. [^]
  40. Ulrich Zimmermann, "Ach guck mal an, der Herr Sohn hat eine Meinung", in Der Ernst des Lebens. Verständigungstexte, hg. v. Ruth-Esther Geiger und Hartmut Klenke (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982), 87. [^]
  41. Ma Sunder Utsavo (R. Wiesmann), "Jetzt bin ich unsicher", in Der Ernst des Lebens. Verständigungstexte, hg. v. Ruth-Esther Geiger und Hartmut Klenke (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1982), 246. [^]
  42. Diedrich Diederichsen, Sexbeat. 1972 bis heute (Köln: Kiwi, 1985), 18. Hervorhebung C.B. [^]
  43. Vgl. Heinrich Bosse, "Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Fürst an die preußischen Universitäten im Mai 1770", in Diskursanalysen II – Institution Universität, hg. v. Friedrich A. Kittler u.a. (Opladen: Springer, 1990), 31–61. [^]
  44. So ließe sich der durchschlagende intellektuelle, feuilletonistisch wie geisteswissenschaftlich intensiv begleitete Erfolg der deutschsprachigen Übersetzung von Didier Eribons Buch Retour à Reims bezeichnen, das im Jahr 2016 unter dem Titel Rückkehr nach Reims bei Suhrkamp erschienen war und eine Reihe ähnlich gelagerter, auf die autobiographische bzw. autofiktionale Bewältigung sozialer und akademischer Aufstiege fokussierter Texte in den Fokus der Verlage und schließlich der Öffentlichkeit rückte (u. a. von J. D. Vance, Christian Baron, Daniela Dröscher, Édouard Louis). [^]
  45. Vgl. Carlos Spoerhase, "Die Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse", Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 818 (2017), 27–37 und die Beiträge in Autosoziobiographie. Poetik und Politik, hg. v. Eva Blome, Philipp Lammers und Sarah Seidel (Berlin: Springer, 2022). [^]
  46. Vgl. exemplarisch Johannes Franzen, "Hemmung vor der Wirklichkeit", Die Zeit, zuletzt aktualisiert am 16.10.2019, https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-10/literaturkritik-fiktion-fakten-schreiben-qualitaet/komplettansicht; Daniel Schreiber, "Ich will ich", Die Zeit, 15.10.2019, https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-10/erzaehlperspektive-ich-schriftsteller-literatur-demokratie-glaubwuerdigkeit/komplettansicht. [^]
  47. Lothar Struck, "Literatur furniert. Überlegungen zu Tendenzen gegenwärtiger Literatur", 08.11.2021, https://glanzundelend.de/Red21/S-U/literatur_furniert_lothar_struck.htm. [^]
  48. Ebd. [^]
  49. Vgl. Moritz Baßler, "Der Neue Midcult. Vom Wandel populärer Leseschaften als Herausforderung der Kritik", Pop-Zeitschrift, 28.06.2021, https://pop-zeitschrift.de/2021/06/28/der-neue-midcultautorvon-moritz-bassler-autordatum28-6-2021-datum/. [^]
  50. Nora Zapf, "Echo, komm wieder. Wir, Schleifen, Schneebälle", in Screenshots. Literatur im Netz, hg. v. Katrin Lange und ders. (München: edition text+kritik, 2020), 50. [^]
  51. Paula Fürstenberg, "Ich denke über das Internet nach und versuche, etwas weniger romanhaft zu lügen oder stockend und mit belegter Stimme zu sprechen", in Screenshots. Literatur im Netz, hg. v. Katrin Lange und Nora Zapf (München: edition text+kritik, 2020), 63. [^]
  52. "[Klappentext]", in Flexen. Flâneusen* schreiben Städte, hg. v. Özlem Özgül Dündar, Mia Göhring, Ronya Othmann und Lea Sauer (Berlin: Verbrecher, 2019), [2]. [^]
  53. "Vorwort", in Flexen. Flâneusen* schreiben Städte, 12. [^]
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