1. Einleitung
Was ist Schwarze deutsche Literatur? Für mich ist sie eine Polyphonie, eine Vielstimmigkeit. Polyphonie kann zum einen buchstäblich verstanden werden: Schwarze Autor*innen erheben ihre Stimmen und erzählen vielfältige Geschichten. Zum anderen treten literarische Stimmen auch transnational in Dialog miteinander. Diese Dialoge zeigen sich in wiederkehrenden Motiven und Themen, aber auch in ästhetischen Zugängen wie der Überschreitung von Literaturgattungen. Der Dialog ist nicht nur afrodiasporisch geprägt und findet außerhalb des afrikanischen Kontinents statt, sondern es zeigen sich häufig auch Bezüge zu Afrika. Die Polyphonie spiegelt Bewegungen wider und hat Entgrenzungen zur Folge, da durch sie die Pluralität Schwarzer deutscher Literaturen sichtbar wird. Sie steht quer zur verengten und begrenzten Rezeption Schwarzer Autor*innen und macht stattdessen ein vielschichtiges Netz von Stimmen sichtbar, die Räume innerhalb des literarischen Feldes schaffen oder (neu) besetzen.
Unter Polyphonie verstehe ich in Anlehnung an die Musik eine "[k]unstvolle Mehrstimmigkeit" (Rausch 2005), einen "Gegenbegriff zu 'einstimmigen', homophonen und heterophonen Strukturen [], mit dem entscheidenden Kriterium der melodisch-rhythmischen Eigenständigkeit der einzelnen Stimmen" (ebd.), und eine "gegenseitige Unabhängigkeit" (ebd.). Das polyphone Netz Schwarzer Literatur ist nicht greifbar, wenn Texte Schwarzer Autor*innen ausschließlich isoliert und nicht in Dialog miteinander gelesen werden. Im Folgenden spüre ich einer Schwarzen deutschen Literaturtradition nach, die bislang keinen Platz in der deutschen Literaturgeschichte und den Literaturwissenschaften hat, geschweige denn sich im Kanon widerspiegelt – sie wird als geschichtslos rezipiert. Mein Ziel ist es, die Perspektiven auf Schwarze deutsche Literatur zu verkomplizieren und zu weiterer, kontextbewusster Forschung anzuregen. Dabei konzentriere ich mich allein auf die Literaturwissenschaften in den Forschungsinstitutionen und nicht auf die Literaturkritik, etwa im Feuilleton, da dies den Rahmen dieses Artikels überschreiten würde. Ich argumentiere gegen eine Vereinzelung Schwarzer deutscher literarischer Texte und dafür, sie in den Kontext einer polyphonen Schwarzen deutschen Literaturtradition einzuordnen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie wir sie als Literaturtradition lesen können. Ich schlage eine vergleichende Analyse vor, die Themen, Motive, Form(entgrenzungen) sowie andere Ästhetiken in den Blick nimmt. Anhand ausgewählter Beispiele skizziere ich folgend (ästhetische) Entwicklungen, Kontaktpunkte und Umbrüche, die die vielfältige Schwarze deutsche Literaturtradition charakterisieren. Hierbei gehe ich insbesondere auf Bewegungen, die Diaspora, den Prozess des Ein-, Um- und Neuschreibens sowie Entwürfe eines postkolonialen Deutschlands ein. Die Neuausrichtung von der Vereinzelung Schwarzer deutscher Literatur hin zu ihrer kontextuellen Einbettung in eine Schwarze Literaturtradition ermöglicht dabei, ihre Geschichtslosigkeit in den deutschen Literaturwissenschaften kritisch in Frage zu stellen und eine breitere Auseinandersetzung mit Schwarzen Autor*innen anzustoßen.
Diese Auseinandersetzung setzt ein Bewusstwerden über Lücken in der Forschung zu Schwarzer deutscher Literatur und ihrer Rezeption voraus. Viele Texte Schwarzer Autor*innen in Deutschland sind vergriffen und in staatlichen Archiven oder Bibliotheken nicht vorhanden. Diese Tatsache führt zur Frage nach staatlichen Archivierungspraktiken und Wertungsmechanismen, die auch Ausdruck dafür sind, welche Literatur als bewahrenswert gilt. Sowohl Forscher*innen außerhalb der Institutionen wie Philipp Khabo Koepsell als auch nicht-staatliche Archive und Bibliotheken wie die Vera Heyer Bibliothek als Teil von Each One Teach One (EOTO e.V.) in Berlin, die Theodor Wonja Michael Bibliothek in Köln, die Fasiathek in Hamburg sowie die kürzlich gegründete Schwarze Kinderbibliothek in Bremen tragen dazu bei, dass die Literatur Schwarzer Autor*innen bewahrt, für die Gesellschaft zugänglich gemacht und an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Sie sind Teil des polyphonen Netzwerks Schwarzer deutscher Literatur und unterstützen als "Knoten für die Literaturproduktion" (Kron 2009, 92) ihre Tradierung.
2. Schwarze deutsche Literaturen entgrenzen und in Gleichzeitigkeiten denken
In der Forschung zu Schwarzer deutscher Geschichte und Literatur stellt die jüngere Schwarze Bewegung in den 1980er Jahren sowie die Publikation Farbe bekennen (1986) nach wie vor einen wichtigen Referenzpunkt dar. Leroy T. Hopkins betont ihre Bedeutung und hebt hervor, dass "[the] German reading-public was given information on a phenomenon which for at least two generations has largely been ignored: the existence of a significant number of Germans of African or African-American descent" (Hopkins 1992, 124). Während Farbe bekennen in den Literaturwissenschaften immer noch als Beginn Schwarzen deutschen Schreibens gilt, wäre sie ohne die vielfältigen Gruppierungen und Literaturproduktionen vor und in den 1980er Jahren überhaupt nicht denkbar (Koepsell 2014b, 44). Wissenschaftler*innen an außeruniversitären Forschungseinrichtungen und in Archiven wie Koepsell sowie transnationale Projekte wie Black Central Europe1 haben diese Perspektive in den vergangenen Jahren erweitert und auf die Geschichten, Aktivitäten und Künste Schwarzer Menschen in Deutschland vor den 1980er Jahren hingewiesen (Koepsell 2014b). Ein alleiniger Fokus auf die 1980er Jahre als Beginn Schwarzen Schreibens in Deutschland führt zu einer Begrenzung ihrer Polyphonie, wohingegen eine vergleichende Perspektive nicht-linearer Entwicklungen von vielfältigen Formen literarischen Schreibens, die ich Gleichzeitigkeiten nenne, zu ihrer Entgrenzung beitragen kann. Anders als die linear angelegte Perspektive des Nacheinanders stellen Gleichzeitigkeiten ein plurales Nebeneinander dar, eine Art Simultaneität, die
[a]nstatt den stringenten Ablauf von Prozessen zu postulieren, [] ein Phänomen der Anti-Sukzession, eine scheinbare Dispersion des teleologisch gerichteten Zeit-Raum-Kontinuums [ist]. Mit ihr werden das Heterogene und Plurale in die moderne Zeittheorie eingeführt. Vielheit und Mannigfaltigkeit sind nicht mehr Momente, die einer Ordnung und Harmonisierung auf einen bestimmten Zweck und ein bestimmtes Ziel hin bedürfen. Dem Pluralen kommt ein Eigenwert zu, der durchgesetzt und behauptet werden soll. (Hubmann und Huss 2013, 26)
Eine große Anzahl gegenwärtiger Forschung zu Schwarzer deutscher Literatur konzentriert sich meist ausschließlich auf Prosa und häufig auf 1000 Serpentinen Angst (2020) von Olivia Wenzel sowie Adas Raum (2021) von Sharon Dodua Otoo (Colvin 2022, Daldrup 2024, Lizarazu 2024, Köhler und Rebholz 2023). Die Artikel zeigen die Offenheit der beiden Romane für vielfältige Lesarten, jedoch kann durch deren vergleichsweise intensive literaturwissenschaftliche Rezeption der Eindruck entstehen, dass Schwarze deutsche Literatur ein neues Phänomen ist, das allein aus Prosatexten besteht. Dies führt zu einer Begrenzung Schwarzer deutscher Literatur, da die Tatsache verdeckt wird, dass Schwarze deutsche Literatur eine Vielzahl an Gattungen, Genres und Medien umfasst – darunter autobiografische Texte, Essays, Lyrik, Spoken Word, Theater, Kolumnen, Kinder- und Jugendliteratur, transmediale Projekte und Zeitschriften.
In Heimat, Identität und Rassismus (2019) gibt Koepsell einen Überblick über die Entwicklungen Schwarzer deutscher Literatur und hebt am Beispiel von Anton Wilhelm Amo, den Zeitschriften Elolombe ya Kamerun und The Negro Worker, Louis Brody und Dualla Misipo hervor, dass Schwarze Menschen in Deutschland bereits seit mehreren Jahrhunderten schreiben (Koepsell 2019). Eine lineare Betrachtung der Entwicklung Schwarzer deutscher Literaturen in Deutschland erscheint allerdings angesichts der vielen (wissenschaftlichen) Lücken und oftmals unauffindbaren Texte unmöglich. So wurde Forschung zu Dualla Misipo in den Literaturwissenschaften erst durch die Neuauflage des lange Zeit vergriffenen autobiografischen Romans Der Junge aus Duala (1973) im Jahr 2022 sowie seine Nennung im Ankündigungstext des Schwarzen Literaturfestivals Resonanzen und Tsitsi Dangarembgas Eröffnungsrede Resonanzen zwischen Raum und Zeit angestoßen.2 Darüber hinaus gilt es, Kategorisierungen und Trennungen innerhalb der Forschung zu Schwarzer deutscher Literatur in Frage zu stellen, die deren Rezeption prädeterminieren. Koepsell betont beispielsweise, dass die Trennung zwischen Schwarzen Autor*innen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, und jenen, die aus anderen Ländern migrierten, für die Erforschung Schwarzer Literaturen in Deutschland hinderlich sei, da so Verbindungen nicht erkannt und Literaturproduktionen vereinzelt werden: "Literature studies scholars tend to separate those groups for a clean structural approach, ignoring that in many cases the former are simply the parents or grandparents of the German-born generations." (Koepsell 2014b, 36) Er verweist auf den "translucent character of Black German writing in Germany" (ebd., 42) sowie dessen "invisible archive" (ebd.) und schlägt vor, Deutschland als "geographic contact zone" (ebd., 36) zu sehen, einen vielschichtigen Raum der Verbindungen, "where people meet, exchange ideas, and put these ideas into writing. This perspective allows us to put publications coming from seemingly different Black communities in relation to each other" (ebd.).
Auch ich konzeptualisiere Schwarze deutsche Literatur weniger als ein (zeitliches) Nacheinander, sondern als polyphones Netzwerk – Claudia Sackl verwendet hierfür den Begriff der Netz_Werke (Sackl 2025) –, das aus Verbindungen und Gleichzeitigkeiten besteht. Problematisch am Denken eines Nacheinanders ist, dass dadurch häufig eine Publikation oder eine*n Autor*in zentral gesetzt und als repräsentativ gelesen werden, wodurch die synchronen und diachronen Dynamiken aus dem Blick geraten, die ebenjene Publikation oder den*die Autor*in hervorgebracht haben. Obgleich ich für einen literaturwissenschaftlichen Fokus auf Gleichzeitigkeiten, ein Nebeneinander, plädiere, sollten dabei nicht die Asymmetrien und Hierarchien innerhalb der Schwarzen deutschen Literatur vergessen werden, die auch Koepsell (2014b) hervorhebt, sowie jene, die durch einen alleinigen literaturwissenschaftlichen Fokus auf Prosawerke entstehen.
Es ist wichtig, Schwarze deutsche Literaturen sowohl synchron als auch diachron zu lesen, da nur so Verbindungen, Brüche und Kontinuitäten sichtbar sowie Themen, Positionierungen, Motive etc. erkennbar werden. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass Schwarze deutsche Literatur nicht länger begrenzt und als geschichtslos rezipiert wird. Ihre Geschichtslosigkeit in den Literaturwissenschaften in Deutschland zeigt sich beispielsweise darin, das Schwarze Autor*innen in Literaturgeschichten und Einführungswerken, die unter anderem in Schulen und dem Studium verwendet werden, häufig schlichtweg nicht vorkommen (vgl. u.a. Beutin, Beilein, Emmerich et al. 2019). Schwarze deutsche Literatur wird aus der deutschen (Literatur-)Geschichte gelöscht – sie erscheint als neues Phänomen, da vielfältige Literaturtraditionen und Bewegungsgeschichten, aus denen sie hervorgegangen ist beziehungsweise an die sie anknüpft, bislang verdeckt geblieben sind.
Stefanie Kron, die sich in ihrer Forschung vor allem auf Schwarze Frauen und ihr literarisches Schreiben von den 1980er Jahren bis in das frühe 21. Jahrhundert konzentriert, sieht "Konstruktionsprozesse von Schwarzen und Weißen Körpern, Bedeutungsgebungen von Haut(Farbe), das Wechselspiel von Blickregimen und (Un-)Sichtbarkeit sowie die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache" (Kron 2009, 87–88) als wichtige Themen und Motive Schwarzer deutscher Literatur. Zudem hebt Kron die literarische Verhandlung der Positionierungen von Schwarzen Menschen hervor, die unsichtbar und zugleich immer sichtbar sind und von der weißen Dominanzgesellschaft als 'anders' markiert werden. Die Unsichtbarmachung Schwarzer Menschen geht, so Kron, auch mit ihrer Verdrängung aus der Vergangenheit und Zukunft Deutschlands einher: "Dieses Subjekt/Objekt […] ist unsichtbar im Sinne von geschichtslos. Das über den kolonialen Weißen Blick und die Sprache konstruierte 'Andere' ist also eher ein stummes Bild ohne Vergangenheit und Zukunft." (Kron 2009, 87–88) Schwarze Menschen und ihre Literaturen werden zu 'Anderen' und geschichtslos gemacht.
In Kontrast zu dieser Rezeption lässt sich in Schwarzer deutscher Literatur ein Ein-, Um- und Neuschreiben von Räumen, Identitäten, Geschichte/n und vielem mehr beobachten, Prozesse, die einer imaginierten Schwarzen Geschichtslosigkeit entgegenwirken. So werden in den Texten Schwarzer Autor*innen – beispielsweise in Die Sonne, so strahlend und Schwarz (2022) von Chantal-Fleur Sandjon – durch Verweise auf bekannte Schwarze Persönlichkeiten afrodiasporische Verbindungen hergestellt, die auch deutlich machen, dass die Schwarze Präsenz in Deutschland und Europa eben nicht geschichtslos ist. Zudem adressieren lyrische Texte oft die weiße Dominanzgesellschaft. Die direkte Ansprache, zum Beispiel in Gedichten von Stefanie-Lahya Aukongo, ist ein ästhetisches Merkmal Schwarzer deutscher Lyrik, das sich sowohl in lyrischen Texten der 1980er Jahre als auch des 21. Jahrhunderts zeigt (Oholi 2022). Das Adressieren verstehe ich als eine Strategie, um den von Stefanie Kron beschriebenen "kolonialen Weißen Blick" zu brechen sowie eine imaginierte Geschichtslosigkeit in Frage zu stellen.
Die Vielfalt Schwarzer Kulturschaffender sollte auch in den Wissenschaften nicht als ein Nacheinander gedacht werden, sondern als entgrenzende Gleichzeitigkeit. Diese zeigt sich deutlich mit Blick auf die Entwicklungen Schwarzer deutscher Literaturen: Die Schwarze deutsche Lyrik, die in den 1980er und 1990er Jahren sehr präsent war, wurde nicht einfach von autobiografischen Texten in den 2000er Jahren abgelöst. Mit Misipos Der Junge aus Duala liegt beispielsweise eine autobiografische Erzählung vor, die lange vor dem 'Boom' an Autobiografien Schwarzer Menschen in den 1990er und 2000er Jahren erschien. Gleichzeitigkeiten zeigen sich auch in der Anthologie Farbe bekennen, die sich aus einer Vielfalt an Textsorten zusammensetzt – Lyrik steht neben autobiografischen Texten, wissenschaftlichen und anderen Beiträgen. Dies führt dazu, dass "verschiedenartige Erfahrungs-, Wissens-, und Artikulationskontexte in eine gleichberechtigte Beziehung" (Lauré al-Samarai 2005, 119–20) gesetzt werden. Auch Tiffany N. Florvil hebt Entgrenzungen in Farbe bekennen hervor, denn "[the] queer format and style of the volume also both affirmed and challenged German literary conventions of the period" (Florvil 2022, 449). Nicola Lauré al-Samarai bezeichnet die Publikation als eine "Collage" (Lauré al-Samarai 2005, 119), die den "zutiefst fragmentierten Charakter einer verschwunden-gemachten Schwarzen deutschen Geschichte" (ebd., 119) aufzeigt. Die "verschwunden-gemachte" Geschichte wird sichtbar, wenn wir Schwarze deutsche Literaturen in ihren Gleichzeitigkeiten, Entgrenzungen und Bewegungen als eine polyphone Literaturtradition lesen.
Lyrik war bei Dichter*innen wie May Ayim, Ana Herrero Villamor, Raja Lubinetzki und Guy St. Louis sowie in den zahlreichen Gedichten, die in Zeitschriften wie afro look erschienen, nicht nur in den 1980er und 1990er Jahren bedeutsam, sondern stellt nach wie vor eine wichtige Gattung der Schwarzen deutschen Literatur dar. Viele Lyriker*innen haben gemein, dass sie mit ihren Gedichten Grenzen überschreiten. Sie "bringen mehrere Saiten zum Klingen: Sie sind Musiker:innen, Aktivist:innen, Verleger:innen" (Mujila 2021, 8). Publikationen einzelner Autor*innen wie Die Akte James Knopf. Afrodeutsche Wort- und Streitkunst (2010) von Koepsell und Aukongos Buchstabengefühle. Eine poetische Einmischung (2018) spiegeln die Vielfalt Schwarzer deutscher Literatur ebenso wider wie Lyrikanthologien wie Talking Home. Heimat aus unserer eigenen Feder. Frauen of Color in Deutschland (1999), Arriving in the Future. Stories of Home and Exile (2014), Afro Shop (2014) und Kontinentaldrift. Das Schwarze Europa (2021). Entgrenzungen zeigen sich unter anderem mit Blick auf Medien beispielsweise in Aukongos E-Book Sperrlinien (2022) oder Buchstabengefühle, einer Gedichtsammlung, die QR-Codes enthält und zu Vertonungen einiger der Gedichte führt. Auch werden literarische Gattungen, zum Beispiel in Sandjons Versroman Die Sonne, so strahlend und Schwarz, überschritten oder es zeigt sich ein entgrenzendes Spiel mit Sprache/n, da Lyriker*innen wie Koepsell und Olumide Popoola mit Sprachwechseln arbeiten. Auch Fiston Mwanza Mujila betont im Vorwort von Kontinentaldrift die entgrenzende Heterogenität Schwarzer europäischer Lyrik, die sich Kategorisierungen entzieht: "Hier haben wir es zu tun mit der Lyrik einer Wegkreuzung, die heterogen ist und schwer zu fassen. Sie wurzelt in mehreren Traditionen: Gesang und mündliche Überlieferung, afro-amerikanische Lyrik und die kanonisierten Texte der europäischen Dichtung." (Mujila 2021, 7)
Eine weitere "Wegkreuzung" in der Schwarzen deutschen Literatur lässt sich verstärkt im 21. Jahrhundert beobachten, wo die Zahl der Erzähltexte zunimmt. Mittlerweile erscheinen viele Romane Schwarzer Autor*innen in großen deutschen Verlagen, jedoch muss betont werden, dass vor allem kleinere, unabhängige Verlage wie edition assemblage, Orlanda, Unrast und Literarische Diverse dazu beitragen, dass Schwarze deutsche Literatur publiziert wird. Zudem veröffentlichen einige Schwarze Autor*innen ihre Texte im Selfpublishing. Neben den bekannten und kanonisch gewordenen Romanen 1000 Serpentinen Angst von Wenzel und Otoos Adas Raum sind auch die Werke von Autor*innen wie Melanie Raabe, Noah Sow, Jackie Thomae, Jasmina Kuhnke, Victoria B. Robinson, Michael Götting, Musa Okwonga, Yandé Seck, Raphaëlle Red und Mirrianne Mahn hervorzuheben. Zudem erschienen auch kürzere Erzähltexte wie Popoolas this is not about sadness (2010), Biskaya (2018) von SchwarzRund sowie die dinge, die ich denke, während ich höflich lächle (2013), Synchronicity (2015) und Herr Gröttrup setzt sich hin (2022), mit dem Otoo 2016 den Bachmannpreis gewann. Außerdem wurden Kurzgeschichtensammlungen wie Winter Shorts (2015) und Resonanzen – Schwarzes Literaturfestival: Eine Dokumentation (2022) veröffentlicht. Im 21. Jahrhundert lässt sich eine weitere Pluralisierung der Schwarzen deutschen Literatur beobachten, da Genretexte hinzukommen beziehungsweise mehr Aufmerksamkeit bekommen. Hier lassen sich Patricia Eckermann und James A. Sullivan nennen, die, zusammen mit anderen Autor*innen wie Sarah Fartuun Heinze und Jade S. Kye, Progressive Phantastik schreiben. Zudem erscheint immer mehr Literatur im Genre des Afrofuturismus in Deutschland, unter anderem The Afropean Contemporary (2015), herausgegeben von Koepsell, sowie die kürzlich bei Amazon erschienene Reihe Afrofuturistische Geschichten (2024). Diese skizzierten Entwicklungen machen deutlich, dass Schwarze deutsche Literatur in Bewegung ist.
3. Bewegungen in Schwarzen deutschen Literaturen und ihren Ästhetiken
Ähnlich wie Kron beobachtet auch Koepsell in literarischen Texten Schwarzer Autor*innen, dass die Verhandlung von "Identität und Heimat, Rassismus-Erfahrungen und de[m] individuellen Umgang damit" (Koepsell 2019) wichtige Themen darstellen, er betont jedoch auch einen Wandel in der Literatur des 21. Jahrhunderts: "Die neuere schwarze Literatur zeugt von einem Wandel in der Selbstwahrnehmung. Die Autor*innen suchen nicht mehr unbedingt danach, als gleichwertig deutsch angesehen zu werden. Sie sind sich bewusst: Ja, wir können deutsch sein – aber wir müssen es nicht." (Koepsell 2019) Diese widerständige Selbstpositionierung Schwarzer Autor*innen spiegelt sich auch in der Pluralität ihrer Literaturen wider, in der sie mal mit Gattungen experimentieren, mal mit Zeit-Raum-Konstellationen oder Sprache. Doch nicht nur die Selbstwahrnehmung der Autor*innen forciert eine Abgrenzung von der Festschreibung als 'Andere' in einem nationalen Kontext, sondern gleichermaßen die Literatur – sie ist in Bewegung. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Schwarze Community in Deutschland heterogen ist und sich diese Heterogenität "in der Schwarzen deutschen Literatur wider[spiegelt]. Denn sie setzt sich aus einer Vielzahl an Sprachen, Ästhetiken und Textgattungen zusammen" (Otoo und Oholi 2022, 8–9).
Auch der Idee, dass Schwarze Literatur eine Polyphonie darstellt, ist der Gedanke von Bewegungen eigen, da sie durch ihre vielfältigen Ästhetiken und Themen oft weder geografisch – hier denke ich beispielsweise an Gedichte von Sandjon, Popoola und Koepsell – noch temporal – wenn wir zum Beispiel an Otoos Roman Adas Raum denken (Colvin 2022) – festgeschrieben werden kann. Die literarischen Texte und Autor*innen entziehen sich durch ihre Bewegungen einer Festschreibung sowie Kategorisierung und es "stellt sich die Frage, was Heimat und Zugehörigkeit für ein vielfältiges Ich in Bewegung bedeutet, das räumliche Grenzen überschreitet, sich mehrfach verortet und sich nicht mehr klar nur einem Raum zuordnen lässt" (Oholi 2021, 349; Herv.i.O.). Auch Otoo betont in einem Gespräch im Deutschlandfunk, dass Schwarze Literatur weniger ein Zustand für sie sei, denn eine Bewegung: "Aber für mich ist es eine Suche, eine Bewegung. Schwarze Literatur ist vielleicht eher ein Verb als ein Nomen." (Aguigah 2022) Hier schwingt mit, dass Schwarze Literatur nicht etwas Abgeschlossenes ist, das sich begrenzen lässt, sondern dass es sich hierbei um eine entgrenzte Literatur in Bewegung handelt.
Bewegungen zeigen sich auch in den Texten und schaffen neue Ästhetiken und Formen. In Schwarzer deutscher Lyrik lassen sich beispielsweise Sprecher*innen- und Sprachwechsel beobachten. Sprachwechsel innerhalb von Gedichten sind oftmals Ausdruck für die Pluralität Schwarzer Identitäten und Zugehörigkeiten. Auch werden häufig Verbindungen zum afrikanischen Kontinent sichtbar und Allianzen innerhalb der afrikanischen Diaspora geknüpft. In den Gedichten steht zumeist nicht nur ein Ich im Mittelpunkt, sondern es gibt – vor allem in den prosaischen Gedichten – immer wieder Wechsel hin zu einem Schwarzen Wir. Ein Beispiel hierfür ist das Gedicht A Fanfare For The Colonized von Koepsell. Der Sprecher*innenwechsel lässt sich aber auch im Wechsel von Erzählinstanzen in Romanen wie Adas Raum beobachten, wenn Gegenstände erzählen, und in 1000 Serpentinen Angst, einem Roman, der größtenteils dialogisch strukturiert ist und in dem sich auch Wechsel zwischen einem Du und Ich zeigen. Diese Sprecher*innenwechsel haben nicht nur eine Polyphonie zur Folge, sondern schaffen Uneindeutigkeiten, beispielsweise in Hinblick auf die Verortung von Figuren sowie (Erzähl-)Stimmen.
Bewegungen können als "emanzipatorisch-aktivistische[] Moment[e]" (Oholi 2021, 351) verstanden werden, da sie sowohl auf thematischer als auch auf ästhetischer Ebene zu einer Pluralisierung von Konzepten wie Herkunft, Heimat, Zugehörigkeit und Identität führen. Es handelt sich um Bewegungen, die eine Dezentrierung zur Folge haben, da sich viele der Figuren und Stimmen jenseits binärer Kategorien bewegen und dominanzgesellschaftlich festgeschriebene Räume überschreiten. Beispielsweise wird in Schwarzer deutscher Gegenwartslyrik Zugehörigkeit oft mit Blick auf Heimat verhandelt, jedoch geht es nicht darum, dass Schwarze Stimmen um die Anerkennung als Deutsche bitten. Stattdessen verorten sie sich hier und da, bewegen sich in der Welt und befreien sich von starren, rassifizierenden Grenzen. Zudem schaffen sie neue Verbindungen, die über Deutschland hinausgehen. Sie schreiben Black Europe, gestalten widerständige, solidarische Räume und knüpfen Verbindungen innerhalb der globalen afrikanischen Diaspora und ihren Literaturtraditionen.
Dies klingt zunächst einmal nach einer großen (Bewegungs-)Freiheit Schwarzer Autor*innen in Deutschland, es muss jedoch betont werden, dass ihnen durch Rezeptions- und Wertungsprozesse nach wie vor Grenzen gesetzt werden. In einem Interview mit Isabella Caldart, das auf 54 books erschien, kritisiert Otoo Kanonisierungs- und damit Wertungs- und Rezeptionsprozesse in Deutschland, die Schwarze Autor*innen schlichtweg nicht mitdenken. Vielmehr werde ein homogener Kanon aufrechterhalten, indem ausschließlich weiße Autor*innen in der Rezeption aufeinander bezogen würden beziehungsweise sich selbst aufeinander beziehen:
Es scheint mir, dass Menschen, die im deutschsprachigen Literaturbetrieb etabliert sind, dachten, dass sie da sind, wo sie sind, weil sie gute Literatur schreiben oder anspruchsvolle Rezensionen verfassen. […] Doch sie hatten wenig im Blick, dass sie auch da sind, weil sie sich zum Beispiel untereinander kennen und sich ihre Literatur kulturell und kanonisch aufeinander bezieht. Schwarze deutschsprachige Literatur wurde weniger beachtet oder unterschätzt, und in der Folge ausgegrenzt. (Caldart 2022)
Otoo verweist auf 'Tiefenstrukturen'3 und darauf, dass sich das literarische Feld in Deutschland durch Ausschlüsse konstituiert, die sich auch in der Rezeption Schwarzer deutscher Literatur widerspiegeln. Eine fehlende Auseinandersetzung mit den intertextuellen Bezügen Schwarzer deutscher Literaturen führt dazu, dass sich ihre Vereinzelung und daraus resultierende Geschichtslosigkeit in den Literaturwissenschaften weiter fortschreibt.
4. Geschichtslosigkeit durch Vereinzelung Schwarzer deutscher Literatur
In den letzten Jahren reißt die Kritik am Kanon nicht ab und doch ist er nach wie vor wirkmächtig. Diese Debatten sind produktiv, denn "[d]as Kritisieren althergebrachter Konventionen wird seit jeher als ein Motor für ästhetische Umbrüche gesehen" (Redaktion Undercurrents 2013). Elahe Haschemi Yekani betont, dass es "mehr Unordnung in der Literaturgeschichte [braucht], als lediglich einem Kanon einen Gegenkanon gegenüberzustellen" (ebd.; Herv.i.O.). Diese 'Unordnung' lässt sich nur realisieren, wenn die Literatur Schwarzer Autor*innen nicht ausschließlich anhand der Einzelwerke analysiert wird, ohne diese in einen literaturgeschichtlichen Kontext einzubetten; denn durch letzteres wird auch ihre Rezeption als 'neues' Phänomen und Ausnahme fortgeschrieben und verfestigt. Schwarze deutsche Literatur ist dann weder Teil der Geschichte noch der Zukunft – sie ist geschichtslos und erscheint als gerade (eben erst) angekommen. In diesem Zusammenhang ist Fatima El-Tayebs Formulierung von der "Iteration des Fremden" (El-Tayeb 2016, 15) hilfreich, die sie unter anderem in Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft (2016) verwendet. El-Tayeb nutzt den Begriff mit Blick auf die sogenannte 'Willkommenskultur' im Jahr 2015 in Deutschland und versteht darunter eine theatrale, inszenierte Begegnung mit 'den Fremden', die jedes Mal aufs Neue als ein erstes Aufeinandertreffen, eine 'Ausnahmesituation' verhandelt wird, obwohl Migration seit Jahrhunderten Europa – und auch Deutschland – formt. In einem nie enden wollenden Kreislauf wird als 'anders' markierten Menschen eine Rolle zugewiesen. Dies dient dem Zweck, dass sie unaufhörlich ihr imaginiertes 'Fremdsein' performen müssen. Durch die sich wiederholende Inszenierung einer 'ersten Begegnung' werden der Rassismus in Europa, Widerstände, aktivistische Bewegungen, Kunsttraditionen sowie die historische Präsenz von Schwarzen Menschen, Menschen of Color und anderen rassifizierten Menschen unsichtbar gemacht – eine, in Fatima El-Tayebs Worten, "anhaltende Dialektik von rassistischer moralischer Panik und der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerung" (El-Tayeb 2016, 15).
Einzeltextanalysen Schwarzer Autor*innen, die häufig nicht einmal andere Werke der*des Autor*in erwähnen, muten wie eine solche erste Begegnung an – die sie für einige Literaturwissenschaftler*innen möglicherweise auch ist – und führen dazu, dass Schwarze deutsche Literatur aus der Literaturgeschichte externalisiert wird.4 Zudem wird "[w]hiteness in German studies […] once again normalized and stabilized" (Oholi 2023, 126). Im Unterschied dazu braucht es eine Rezeption, die literarische Texte vergleichend analysiert und sowohl synchron als auch diachron in Dialog miteinander bringt, damit Schwarze Autor*innen eben nicht immer und immer wieder allein als 'anders' oder ein gegenwärtiges Phänomen wahrgenommen und gelesen werden, sondern als Teil einer polyphonen Literaturtradition, die Bezüge in Deutschland und darüber hinaus hat.
Es braucht neue Lesarten, die eine "selbstbestimmte Geschichtlichkeit" (Lauré al-Samarai 2005, 119) Schwarzer Menschen herausarbeitet. Diese 'selbstbestimmte Geschichtlichkeit' zeigt sich beispielsweise in den beiden Artikeln "Beyond the Word: Aesthetic Principles of Afropolitanism in Sharon Dodua Otoo's Adas Raum" (2024) von Mahamadou Famanta und Kyung-Ho Chas "Ghanaian Folk Thought, Akan Religion and an Ethic of Care in Sharon Dodua Otoo's Adas Raum" (2024). Hier bilden afrikanische Wissenstraditionen den theoretischen Rahmen, wodurch Adas Raum als Teil eines vielfältigen, resonierenden Schwarzen Wissens gelesen werden kann. Statt ihn zu verengen, öffnet eine solche Lesart den Text für vergleichende Analysen. Otoo selbst verwendet in Anlehnung an Katja Kinder den Begriff der 'Resonanzen', womit sie die (intertextuellen) Verbindungen zwischen literarischen Texten Schwarzer Autor*innen bezeichnet und das,
was sich die Geschichten gegenseitig und im Hinblick auf andere literarische Werke, andere afrodiasporische Texte erzählen. Das ist für mich Resonanz: Wenn eine Schwarze Person einen Text schreibt und Würdigung in einem Raum findet, weil Lesende wissen, was gemeint ist, worauf der Text Bezug nimmt, an was er erinnert. (Caldart 2022)
Hier schwingt deutlich mit, dass es neue Rezeptionsräume und Wissen braucht, neue theoretische und methodische Annäherungen an Schwarze deutsche Literatur, damit intertextuelle Resonanzen überhaupt erkannt werden können. Die Analyse von Resonanzen kann Schwarze deutsche Literatur auch in den Literaturwissenschaften entgrenzen und zugleich epistemologische Leerstellen sowohl im literarischen Feld als auch in der Gesellschaft aufzeigen. Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition zu lesen, kann somit Transformationen anstoßen, da Dynamiken der Wissens- und Wertungsbildung thematisiert werden können, die immer noch zu Rassifizierung und Ausschlüssen führen.
Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition zu lesen, ist zudem transformativ, da diese Lesart sowohl die Literaturgeschichte als auch den Kanon sowie Wertungsprozesse in Deutschland in Frage stellt. Auch geht es darum, darüber nachzudenken, welche Transformationen möglich sind, wenn wir Schwarze deutsche Literatur als polyphone Tradition lesen. Eine solche Lesart kann für Autor*innen Freiheiten bringen, da ihre Literatur in ihrer Pluralität und in ihren vielfältigen Bezügen rezipiert wird. Mit Freiheit meine ich, dass die literarischen Texte in der Rezeption eben nicht allein in der Gegenwart verortet und vereinzelt, sondern in ihrer ganzen Offenheit anerkannt und gelesen werden. Zwar besteht Schwarze deutsche Literatur aus unterschiedlichsten Textgattungen, Genres, Themen, Motiven und Ästhetiken, jedoch lässt sich bislang beobachten, dass literarische Texte Schwarzer Autor*innen in Deutschland fast ausschließlich politisch oder gar soziologisch gelesen werden (Otoo, Oholi und Ruhrfestspiele Recklinghausen 2022, 106). Die Sonderausgabe Sharon Dodua Otoo – Literature, Politics, Possibility (2024) von German Life and Letters, herausgegeben von Sarah Colvin und Tara Talwar Windsor, zeigt hingegen sehr deutlich, dass der Fokus auf die Ästhetiken im Werk von Otoo und die Berücksichtigung ihrer politischen Positionierung sowie ihres Aktivismus' sich nicht ausschließen müssen. Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition zu lesen, führt zur Befreiung von einer homogenisierenden und verengten Lesart Schwarzer Autor*innen und ebnet den Weg für die Erforschung von "aesthetic and narrative characteristics of the writings by people of African and African diasporic descent, and their complexity, originality, and innovativeness in matters of language and literary expression" (Folie und Zocco 2024, 16–17). Durch die vielfältigen Resonanzen ist eine vielschichtige Lesart möglich, die die Heterogenität der literarischen Texte und Ästhetiken sichtbar macht. Hierin liegt das transformative Potential, das sich entfaltet, wenn wir Schwarze deutsche Literatur als polyphone Tradition lesen.
5. Schwarze deutsche Literatur als polyphone Tradition lesen – aber wie?
Um Schwarze deutsche Literatur als Literaturtradition zu lesen, ist im Bereich der Theorien und Methoden mehr Offenheit, Mut und Kreativität erforderlich. Viele machtkritische und antirassistische Theorien haben sich im deutschen Kontext noch nicht etabliert (Febel 2012). Wir brauchen jedoch neue Zugänge, Annäherungen und Lesarten, um Schwarze deutsche Literatur in ihren Bewegungen und ihrer Polyphonie lesen zu können. Eine theoretische und methodische Annäherung an Schwarze deutsche Literatur muss transnational und transtemporal sein, um über eine vielfältige Literaturtradition, die historische und gegenwärtige Präsenz Schwarzer Menschen in Deutschland und Europa sowie das "Schwarze[] Wissensarchiv" (Eggers 2005) sprechen zu können. Es braucht eine ehrliche und nachhaltige Auseinandersetzung mit Hegemonien und Ausschlüssen in der Wissensbildung. Die reiche Tradition Schwarzer Intellektueller, die in und über Europa geschrieben haben und dies immer noch tun, ist in den Wissenschaften in Deutschland kaum präsent oder wird gar nicht als Wissen anerkannt. Schriften von Frantz Fanon, Aimé Césaire, Léopold Sédar Senghor, Stuart Hall, Paul Gilroy, Audre Lorde, Minna Salami, Léonora Miano, Emma Dabiri, Kehinde Andrews, Achille Mbembe, Emilia Roig, Alice Hasters und vielen anderen können auch in den Literaturwissenschaften für die Analyse Schwarzer deutscher Literatur genutzt werden, da sie Überlegungen, beispielsweise zur globalen Schwarzen Diaspora, der – historischen, gegenwärtigen und zukünftigen – Beziehung zwischen Afrika, Europa und der restlichen Welt sowie der Konzeptualisierung Schwarzer Identitäten, bieten. Zudem können ausgehend von Forschungsbeiträgen aus den Black German und European Studies, unter anderem von Fatima El-Tayeb, Gloria Wekker, Philomena Essed, Tiffany N. Florvil, Natasha A. Kelly, Michelle M. Wright, Tina M. Campt, Trica Keaton, Peggy Piesche, Adrienne Merritt, Maisha-Maureen Auma, Denise-Bergold Caldwell, Priscilla Layne und Vanessa E. Thompson, Ideen und Konzepte weiterentwickelt und für die Literaturanalyse nutzbar gemacht werden.
Ein Weg, der weg von der Einzeltextanalyse und der damit einhergehenden Vereinzelung Schwarzer deutscher Literatur hin zu einer Einbettung in eine Literaturtradition führt, ist der Textvergleich. Durch den Textvergleich lassen sich vielschichtige Analyseperspektiven entwickeln, die es auch ermöglichen, unterschiedliche literarische Gattungen zu analysieren und sie in Relation zueinander zu lesen. Der Vergleich, der teilweise bereits meist synchron praktiziert wird (Colvin 2022, Köhler und Rebholz 2023, Liese 2024), stellt eine wichtige Methode dar, um die Pluralität Schwarzer deutscher Literatur offenzulegen. Durch den Vergleich können transnationale wie auch transtemporale Ähnlichkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden. Dies verkompliziert den Blick auf Schwarze deutsche Literatur und wirkt ihrer verengten Rezeption entgegen. Auch Sabrina Brancato plädiert in Afro-European Literature(s): A New Discursive Category? für eine vergleichende Analyse Schwarzer europäischer Literaturen, um "diachronic and synchronic connections that reveal new configurations across linguistic and national boundaries" (Brancato 2008, 11) nachzuzeichnen. Eine komparatistische Perspektive legt offen, "where Africa and Europe – and Africa in Europe – are continuously set against each other in an effort to problematize what the two continents mean to each other, how they interact and give place to new syncretic cultural formations" (Brancato 2008, 11). Durch einen Textvergleich können die Eigenarten einzelner Texte in Dialog mit anderen analysiert werden. Für Schwarze deutsche Literatur bedeutet dies, dass Texte sowohl synchron als auch diachron miteinander verglichen werden, dass die Analyse aber auch über Deutschland hinausgehen kann und mit den Literaturen Schwarzer Autor*innen aus anderen Ländern zusammengebracht wird. Auch hier gilt es, kreativ zu sein und in Gleichzeitigkeiten zu denken: Unsere Perspektive kann lokal und zugleich global sein, wodurch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse sowohl in einem nationalen als auch in einem transnationalen Kontext sichtbar werden. Durch einen Textvergleich können räumliche, zeitliche, ästhetische und politische Verschränkungen in den Blick genommen werden, die sich auch in den literarischen Texten Schwarzer Autor*innen zeigen.
Ein thematischer oder konzeptbasierter Textvergleich kann sich beispielsweise auf die Diaspora konzentrieren. Vor allem in der Gegenwartsliteratur Schwarzer Autor*innen in Deutschland lässt sich, wie auch Koepsell anmerkt, diesbezüglich eine "kontextuelle Neuausrichtung [beobachten]: Sie positionieren die schwarze deutsche Geschichte als Teil einer internationalen Diaspora-Erfahrung" (Koepsell 2019). Das Diasporische kommt beispielsweise durch Verweise auf bekannte Schwarze Persönlichkeiten zum Ausdruck (Kron 2009, 90), durch räumliche und zeitliche Bewegungen von Figuren und Stimmen, das Schaffen eines heterogenen Schwarzen Wir, einer Gemeinschaft und Community, sowie durch Entwürfe heterogener Schwarzer Identitäten und diasporischer Familienkonstellationen, beispielsweise im Roman Weiße Wolken (2024) von Yandé Seck. Diaspora wird hierbei nicht allein inhaltlich thematisiert, sondern zeigt sich auch ästhetisch, beispielsweise durch eng verwobene Raum-Zeit-Strukturen oder Motive, die sich weder auf Räume noch Zeiten festschreiben lassen. So hat die Jury des Resonanzen-Festivals das Haar- und Vatermotiv als häufig wiederkehrendes Element afrodiasporischen Erzählens hervorgehoben (Otoo, Oholi und Ruhrfestspiele Recklinghausen 2022). Mit Blick auf "Schwarze weibliche Subjektivitäten" in lyrischen Texten betont auch Kron die Bedeutung der Diaspora, die Ausdruck in Motiven der Bewegung findet: "Sie entziehen sich immer wieder einer 'monokulturellen Grammatik', d.h. territorialen, historischen und kulturellen Festschreibungen. Im Vordergrund stehen stattdessen etwa Wortspiele mit Motiven der Bewegung wie 'Entfernung', 'Verbindung' und 'Unterwegs-Sein'." (Kron 2009, 90) Dies lässt sich beispielsweise in der Lyrik von May Ayim beobachten.
Neben der Bezugnahme auf die Diaspora arbeiten Schwarze deutsche Literaturen auch am Ein-, Um- oder Neuschreiben von Geschichte/n. So erzählen, wie Fiston Mwanza Mujila für Schwarze europäische Lyrik hervorhebt, "Dichter:innen […] ihre eigene Geschichte, geben also ihre eigene Version der Fakten wieder. Sie reichen uns die Hand und nehmen uns mit in ihre eigene Intimität und die ihrer Gemeinschaft" (Mujila 2021, 9). Schwarze Autor*innen nutzen beispielsweise Wiederholungen oder Anaphern, um die Parallelität, die Gleichzeitigkeit von Geschichte/n ästhetisch auszudrücken, wie sich in dem Gedicht A Fanfare For The Colonized von Koepsell zeigt:
We have studied all the details.
We derail that rusty steam train
We can rename all your heroes and you won't even know!
We can blow that marble up, you see.
We can write this history (Koepsell 2014a, 213)
Autor*innen wie Koepsell schreiben Schwarze sowie afrodiasporische Geschichten in Deutschland ein und tragen so zu einem Um- oder Neuschreiben der Erinnerungskultur bei. Gewaltgeschichten werden häufig multidirektional erzählt (Göttsche 2012, 84), wodurch das Narrativ von rassistischer Gewalt als 'Einzeltat' dekonstruiert wird. Die Multidirektionalität von (Gewalt-)Geschichten zeigt sich beispielsweise in Otoos Adas Raum oder in Deutschland im Herbst von May Ayim. Das Ein-, Um- und Neuschreiben in Schwarzen deutschen Literaturen führt zu Irritationen der (Literatur-)Geschichte und macht Verbindungen sichtbar, beispielsweise zwischen den Erfahrungen Schwarzer Menschen in der DDR und der BRD wie sie in den Romanen Brüder (2019) von Jackie Thomae und 1000 Serpentinen Angst von Wenzel erzählt werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in Schwarzer deutscher Literatur ist die Beschreibung Deutschlands als postkolonialer Raum bzw. als postkoloniale Gesellschaft. Viele Autor*innen thematisieren die deutsche Kolonialgeschichte sowie bestehende Macht- und Ausschlussmechanismen und kämpfen gegen die "hartnäckige[] Weigerung staatlicher Akteure und Institutionen sowie der Weißen Mehrheits(zivil)gesellschaft, anzuerkennen, dass die Bundesrepublik – und früher die DDR – nicht nur postfaschistische, sondern auch postkoloniale Gesellschaften sind" (Kron 2009, 89). In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig, auf die Verwendung von Sprache/n zu achten: Sprachwechsel in der Lyrik oder auch die Mehrsprachigkeit in prosaischen Texten sind Ausdruck für eine postkoloniale Gesellschaft, wie sich unter anderem in Gedichten von Popoola, Sandjon, Koepsell und Aukongo zeigt. Nach Kron realisieren die literarischen Texte Schwarzer Autor*innen "Suchbewegungen nach einer Sprache jenseits rassistischer/exotistischer/sexualisierter Stereotypen, um sich selbst zu (be)schreiben" (Kron 2009, 90). Die Suche nach einer neuen Sprache spiegelt sich auch in Neologismen wider, wie sie etwa Aukongo in der Lyriksammlung Buchstabengefühle erschafft. Ein Beispiel sind die "Normalpersoneneinheitsweltmenschen" (Aukongo 2018, 122) im Gedicht Liebes Schwarzes Menschenkind, mit dem sich Aukongo gegen eine Gesellschaft wendet, die Körper und Menschen rassifiziert und marginalisiert, die nicht einer konstruierten Norm entsprechen.
Diese Suchbewegungen finden innerhalb einer Gesellschaft statt, die sich selbst nicht als postkolonial ansieht und die koloniale Geschichte sowie Migrationsbewegungen, die auch durch Dekolonisierungsprozesse angestoßen wurden, nicht als gesellschaftskonstituierend anerkennt. Mit Blick auf die Lyrik betont Mujila entsprechend, dass ein
Konflikt mit der Sprache […] bei den zeitgenössischen Dichter:innen der Schwarzen Diaspora unterschwellig spürbar [ist]. Denn die Sprache verkörpert zwar nicht mehr den Kolonisator, stellt aber immer noch ein Machtinstrument dar. Ihre Aneignung oder sagen wir ihre Entweihung vollzieht sich durch den Einbau von Wörtern des Terroirs. (Mujila 2021, 9)
Ein besonderes Augenmerk kann auch darauf gerichtet werden, welche Rolle Metropolen in den literarischen Texten Schwarzer Autor*innen spielen – auch im Verhältnis zu ländlichen Regionen – und wie diese als postkoloniale Räume erzählt werden.
Der Vergleich beschränkt sich nicht allein auf einzelne Textsorten, sondern kann auch gattungsübergreifend oder transmedial genutzt werden. Oftmals entgrenzt vor allem die Gegenwartsliteratur Schwarzer Autor*innen literarische Gattungen und schafft neue, experimentelle Textformen. Forscher*innen könnten herausarbeiten, wie davon ausgehend Bewegungen verhandelt werden. Die Analyse müsste sich dann auf den Inhalt und die Ästhetik zugleich beziehen, da es darum geht, auffällige Formen beziehungsweise deren textuelle Reflexion zu analysieren. Der Vergleich eines Gedichts mit einem Erzähltext trägt dazu bei, Verbindungen jenseits literarischer Gattungen offenzulegen und die Schwarze Literaturtradition in ihrer Pluralität sichtbar zu machen. Durch einen gattungsübergreifenden Vergleich zeigt sich, dass – um beim genannten Beispiel zu bleiben – Bewegungen ein zentrales Element der Schwarzen deutschen Literaturtradition sind und dass diese sich auch in ästhetischen Verfahren wie dem freien Vers oder in der Verwendung von Leitmotiven ausdrücken. Ein Beispiel für ein Leitmotiv ist das Armband in Adas Raum, das sich durch den gesamten Roman bewegt und die vier Ada-Figuren transtemporal und transnational miteinander verbindet. In der Analyse ließe sich dann noch einen Schritt weitergehen, indem die deutschsprachigen Texte in Dialog mit literarischen Texten Schwarzer Autor*innen aus anderen Ländern gebracht werden. Auf diese Weise zeigte sich einmal mehr die Polyphonie der afrikanischen Diaspora, zu der auch eine Schwarze deutsche Literaturtradition gehört.
Über die genannten Aspekte hinaus kann Schwarze deutsche Literatur mithilfe des Textvergleichs auch als Teil der deutschen Literaturgeschichte verankert werden. Der Kanon würde dadurch pluralisiert, dass Bezüge zwischen Schwarzen deutschen Autor*innen und kanonisierten Autor*innen nachgezeichnet werden – "Gleichzeitigkeiten, Verwebungen und Überlappungen von kanonischen und nichtkanonischen Quellen" (Redaktion Undercurrents 2013). Dies wirkt auch einer 'Vernischung' und Kategorisierung Schwarzer deutscher Literatur als 'andere Literatur' entgegen, da sie als Teil einer pluralen deutschen Gesellschaft mit vielfältigen Geschichten, Traditionen, Bezügen, Themen und Ästhetiken in Erscheinung tritt. Auch kann der Textvergleich genutzt werden, um mehr über Verbindungen zwischen literarischen Texten Schwarzer Autor*innen und jenen anderer rassifizierter, marginalisierter Autor*innen in Deutschland nachzudenken. Eine "relationale Lesart" (Oholi 2022, 416) hat das Potential, die deutsche Literaturgeschichte zu irritieren, wie ich in Literaturgeschichte stören: BPoC Literatur in Deutschland relational lesen (2022) schreibe. Der Beitrag betont, wie wichtig es ist, "Verbindungen zwischen BPoC Autor*innen und ihren literarischen Werken aufzuzeigen", da "in solidarischer und widerständiger Verwobenheit […] die deutsche Literaturgeschichte nachhaltig gestört, unterwandert und neu geschrieben werden" (Oholi 2022, 417) kann. Der Textvergleich trägt somit auch dazu bei, die Literaturgeschichte zu 'stören' und zu pluralisieren – ein heterogenes und polyphones Geflecht an Literaturen, Wissen und Ästhetiken wird sichtbar, das Teil der deutschen und europäischen (Literatur-)Geschichte ist.
6. Fazit
Eine Auseinandersetzung mit Schwarzen deutschen Literaturen, die nicht alleine aus Einzeltextanalysen besteht, sondern den Textvergleich synchron, diachron oder transmedial als Methode nutzt, führt dazu, dass wir eine vielfältige Schwarze Literaturtradition in Deutschland und darüber hinaus offenlegen können. Ich spreche hier bewusst von 'offenlegen', um hervorzuheben, dass diese Literaturtradition nicht erst durch neuere literarische Publikationen in den letzten Jahren begonnen hat, sondern seit langem Teil Deutschlands und seiner (Literatur-)Geschichte ist. Die Einzeltextanalyse verdeckt diese Tatsache, da Schwarze deutsche Literatur isoliert und als gerade angekommen rezipiert wird. Da das Schreiben vieler Schwarzer Autor*innen auch von Schwarzen Intellektuellen und anderen Schwarzen Referenzrahmen und -systemen beeinflusst ist, werden durch Einzeltextanalysen zugleich Schwarze Wissenstraditionen verdrängt. Dies führt dazu, dass ein weiß normiertes Wissen stabilisiert und weiterhin tradiert wird – auch in den Literaturwissenschaften.
Schwarze deutsche Literatur als polyphone Literaturtradition zu lesen, hat Einfluss auf Wissens- und Wertungsprozesse im literarischen Feld, da diese Lesart Lücken offenbart: Lücken in Archiven, in Verlagen, Literaturgeschichten und im Kanon, in literarischen Veranstaltungen innerhalb und außerhalb der Universitäten, im universitären und schulischen Curriculum sowie in Forschungsprojekten. Die Auseinandersetzung mit einer Schwarzen deutschen Literaturtradition birgt ein transformatives Potential, da sie zu einem Um- und Neudenken innerhalb der Literaturwissenschaften und darüber hinaus anregt. Irritationen über Wissenslücken können produktiv genutzt werden, wenn bislang unterrepräsentierte Themen, Stimmen, Perspektiven, Erfahrungen und Geschichten Eingang in die Wissenschaften in Deutschland finden. Sie machen eine andere, offenere Auseinandersetzung mit der Literatur Schwarzer Autor*innen und anderer rassifizierter, marginalisierter Autor*innen möglich und strahlen auch auf weitere Disziplinen aus. Schwarze deutsche Literatur als polyphone Literaturtradition zu lesen, transformiert somit nicht nur, wie wir mit literarischen Texten Schwarzer Autor*innen in den Literaturwissenschaften umgehen, sondern eröffnet uns auch Wege, die Zukunft einer pluralen Gesellschaft und Literaturwissenschaft aktiv mitzugestalten – in all ihren Bewegungen, Entgrenzungen und Gleichzeitigkeiten.
Notes
- Das Projekt Black Central Europe (https://blackcentraleurope.com/) konzentriert sich auf die Schwarze Geschichte deutschsprachiger Länder. Seit 2014 tragen Wissenschaftler*innen wie Jeff Bowersox, Robbie Aitken, Julia Alcamo, Tiffany Florvil, Philipp Khabo Koepsell, Kristin Kopp und Kira Thurman die Geschichten Schwarzer Menschen der letzten 1000 Jahre zusammen und machen sie unter anderem mithilfe einer interaktiven Karte frei zugänglich. Darunter finden sich auch Informationen zu Schwarzen Schreibenden in deutschsprachigen Ländern. [^]
- Gianna Zocco und Sandra Folie veranstalteten im November 2024 am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin den Workshop Dualla Misipo: "Der Junge aus Duala". Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf ein frühes Werk der Schwarzen deutschen Literatur (https://www.zfl-berlin.org/event/dualla-misipo-der-junge-aus-duala.html). [^]
- Ich beziehe mich auf Gloria Wekker, die in White Innocence. Paradoxes of Colonialism and Race (2016) den Rassismus in Europa in Anlehnung an Edward Said als 'Tiefenstruktur' bezeichnet. [^]
- Eine erste Begegnung mit literarischen Texten und Autor*innen findet oftmals durch die Lektüre von Einführungswerken statt. Damit diese nicht zu einer "Iteration des Fremden" wird, braucht es Einführungen, die weniger ein Nacheinander als ein Nebeneinander fokussieren und den Textvergleich verwenden. Dies würde das Kapitel „Afro-deutsche Literatur am Beispiel von May Ayim und Sharon Dodua Otoo“, das in Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung (2022) von Michaela Holdenried erschienen ist, dahingehend ergänzen, dass die Literatur von May Ayim und Sharon Dodua Otoo nicht als in sich geschlossen analysiert würde. Beide Autorinnen verbindet nämlich unter anderem ihr intersektionaler Feminismus, der sich auch in ihrer Gesellschaftskritik und ihren literarischen Texten widerspiegelt, sie nutzen unterschiedliche Textsorten als Ausdrucksmöglichkeiten und verwenden beispielsweise Adinkra Symbole. Zudem positionieren sie sich (literarisch) in Deutschland und zugleich als Teil der afrikanischen Diaspora. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die jedoch verdeutlichen sollten, dass es eine andere methodische und theoretische Annäherung an Schwarze deutsche Literatur braucht, um ihre Polyphonie greifen zu können. Diese schließt mit ein, dass, anders als in Holdenrieds Kapitel, das fast ausschließlich auf US-amerikanische Forschung zurückgreift, auch relevante Sekundärliteratur von Forscher*innen aus Deutschland verwendet werden sollte, da sich ansonsten eine Externalisierung und Marginalisierung Schwarzer deutscher Literaturen – auch als Forschungsbereich – fortschreibt. [^]
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