1. Einleitung: Foucaults Auseinandersetzung mit Marx
In einem Gespräch mit Ducio Trombadori von 1978 sagt Foucault über sich, er sei in seinen Studienjahren "nietzscheanischer Kommunist" gewesen (Foucault 1980, 63). Damit verortet er sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Einerseits wirkt Nietzsches Denken auf Foucault wie ein Befreiungsschlag gegenüber den Strömungen des Marxismus und der Phänomenologie im Frankreich der Nachkriegszeit. Andererseits bezieht sich Foucault affirmativ auf Marx, insbesondere in der Analyse der kapitalistischen Gesellschaft.
An der École normale supérieure in Paris studiert Foucault ab 1946 u.a. bei Louis Althusser, der ihn einen strukturalistischen Marxismus lehrt und zum Eintritt in die Kommunistische Partei (PCF) bewegt. Kurze Zeit später verlässt er diese wieder. Trotz des Kontakts zu Althusser spielt Marx in Foucaults Schriften, anders als Nietzsche, keine prominente Rolle. Zwar lobt er Marx in der Archäologie des Wissens dafür, ein neues Denken historischer Diskontinuität mitzuverantworten, das gegen eine ideengeschichtliche Konstruktion großer Epochen eine Analyse historischer Brüche, Serien und Ereignisse ins Treffen führt (vgl. Foucault 1969, 22). Doch relativiert sich dieses Lob vor dem Hintergrund von Die Ordnung der Dinge, wo Marx innerhalb einer épistème des 19. Jahrhunderts verortet und als Erbe der politischen Ökonomie Ricardos gehandelt wird (Foucault 1966, 320). Zeitgenössisch wurde diese historische Einordnung als Provokation aufgenommen. So monierte etwa Jean-Paul Sartre, dass Foucault der marxschen Kritik ihren revolutionären Gehalt raube (Sartre 1966).
In der Tat avanciert Foucault in den 1970er Jahren zu einem öffentlichen Marx-Kritiker. Wie sein Lehrer lehnt er eine anthropologisch-humanistische Lesart ab, geht über Althusser aber insofern hinaus, als er Marx' Begriff der Ideologie zur Disposition stellt. Foucault wendet sich gegen drei Prämissen des Ideologiebegriffs: Erstens gegen die umstandslose Privilegierung des wissenschaftlichen Diskurses gegenüber anderen Diskursen; zweitens gegen eine apriorische Theorie des Subjekts, die der Ideologiebegriff nach Foucault impliziert, insofern Ideologien auf präexistente Subjekte einwirken; und drittens gegen die Dichotomie zwischen ideellem Überbau und ökonomischer Basis (Foucault 1980, 196–197).1 Stattdessen führt Foucault mit Nietzsche den Begriff der "Politik der Wahrheit" ins Feld (Foucault 1974, 683), womit er weniger auf den falschen Schein gesellschaftlicher Verhältnisse zielt, sondern den produktiven und agonalen Charakter von verschiedenen Wahrheitspraktiken betont. Dementgegen lassen sich aber auch affirmative Bezüge auf Marx finden, wie zum Beispiel in der Vorlesungsreihe Die Strafgesellschaft von 1972/73 am Collège de France (Foucault 1972/73). Hier schließt Foucault in seinen Analysen zur Genealogie der Disziplinarmacht explizit an Marx an. So folgt Foucault Marx etwa in der Einschätzung, dass sich Kapital allererst akkumulieren lässt, wenn zuvor die Akkumulation und Disziplinierung von Menschen stattgefunden hat.
Der Frage, welche Bedeutung die Engführung von Foucault und Marx heute noch hat, widmete sich vom 18. bis 19. Oktober 2024 ein internationales Symposium am Institut für Philosophie der Universität Wien. Organisiert wurde die Veranstaltung unter dem Titel "Foucault and Marx. Ambivalences, Legacies, and Future Struggles" von Eva-Maria Aigner, Ralf Gisinger, Christoph Hubatschke, Eva Jägle und Jonas Oßwald. Die Konferenz in Wien ist eine von vielen europaweit, die sich anlässlich von Foucaults 40. Todestag verschiedenen Aspekten seines Oeuvres widmen.2 In Wien setzte man sich das Ziel, das ambivalente Verhältnis zwischen Marx und Foucault auszuloten und dabei neue Anknüpfungspunkte zu erproben.3
Das Gros der Konferenzbeiträge folgte dabei einem aktuellen Rezeptionsansatz, Foucault mit Marx wieder zu lesen, also die theoretische Verwandtschaft zwischen Marx und Foucault zu unterstreichen und weiterzudenken, wie Jacques Bidet rezent in Foucault mit Marx (2023) angeregt hat. Bidet folgt darin Antonio Negri (2017) und Étienne Balibar (1991), die Marx als zentrales Vorbild im Denken Foucaults ansehen. Darüber hinaus gelang es der Konferenz, ein thematisch breites Spektrum an Vorträgen zu präsentieren und bislang wenig thematisierte Bezüge zwischen Marx und Foucault herzustellen. Im Folgenden bespreche ich die Beiträge der Konferenz und beziehe sie überblicksartig aufeinander. Zunächst skizziere ich, wie Robert Nigro (Lüneburg), Alex Demirović (Frankfurt a. M./Berlin) und Johanna Oksala (Chicago) die Frage diskutierten, ob Foucault als Marxist bezeichnet werden kann (2.). Dann folgt ein Abschnitt zu Foucaults Aktivismus, dem sich Matteo Polleri (Paris) und Joe Grant (Warwick) widmeten (3.) und ferner eine Rekonstruktion der Vergleiche zwischen Foucault und anderen ausgewählten Denker:innen des (Post)Marxismus von Phoebe Braithwaite (Harvard), Adam Takács (Budapest) und Rosa Martins (Paris/Chicago) (4.). Anschließend bespreche ich das Thema der Ideologie sowie der sozialen Reproduktion im Kapitalismus, mit dem sich insbesondere Théo Favre Rochex (Paris) sowie Francesco Aloe und Chiara Stefanoni (Lüneburg) befassten (5.). Darauf folgt ein Abschnitt zur auf der Konferenz vieldiskutierten Biopolitik mit Vorträgen von Friederike Beier (Berlin), Antonio Cerquitelli (Padova) und Isabelle Garo (Paris) (6.) sowie zur Bedeutung des kapitalistischen Zeitregimes in der Disziplinargesellschaft, die Yari Lanci (Sussex) und Johann Szews (Magdeburg) diskutierten (7.). Zuletzt werden zwei Beiträge von Isabell Lorey (Köln) sowie Judith Bastie und Isabel Jacobs (Paris/London) zu einem in der Forschung noch unbekannten Foucault konturiert. Lorey zeichnete Foucaults Verständnis der Vagabondage in Die Strafgesellschaft nach, während Bastie und Jacobs Foucaults frühe Rezeption des sowjetischen Agronomen Trofim Lysenko diskutierten (8.). Mein abschließender Kommentar unterstreicht, was in der Konferenz in Wien einzig zu kurz kam; und zwar die Reflexion auf Foucaults heterogene Neuausrichtungen, die er in seinen Schriften konstant gegenüber sich selbst, gegenüber Marx sowie anderen philosophischen Strömungen unternimmt. Foucaults wiederholte (selbst)kritische Reorientierungen verhindern, Foucaults Werk auf die Marxbezüge zu verkürzen (9.).
2. Foucault ein Marxist?
Roberto Nigro (Lüneburg) argumentierte, dass Foucaults Werk durchwegs von der (zumindest impliziten) Auseinandersetzung mit Marx geprägt ist. Ausführlich lotete er aus, wie Foucaults Bezüge auf Marx einzeln zu bewerten seien und stellt dabei einen Wandel fest. Nigro ging bis auf die ins Deutsche und Englische noch nicht übersetzten Vorlesungen La question anthropologique von 1954/55 zurück, in denen Foucault ein anthropologisches Verständnis der Arbeit bei Marx kritisiert (Foucault 2020). Weiterhin verfolgte Nigro Foucaults affirmative Marxreferenzen in Die Strafgesellschaft sowie die Genealogie des Klassenkampfes bzw. des Bürgerkriegs in In Verteidigung der Gesellschaft (1975/76). Nigro warf die Frage auf, ob Foucaults Begriff der Gouvernementalität, verstanden als Gesamtheit moderner Regierungstechniken, über Marx' Gesellschaftsanalyse hinausgeht. Mit Blick auf Foucaults Machtbegriff stellte Nigro auch Foucaults Selbstbezeichnung als "nietzscheanischer Kommunist" zur Diskussion. Nigros Einschätzung lautete dahingehend, dass Foucault als "häretischer Neomarxist" zwar eine Absetzbewegung von Marx vollzieht, sich aber nicht völlig von ihm löst.
Alex Demirović (Frankfurt a. M./Berlin) interpretierte Foucaults Absetzbewegung als eine theoretische und historische Erweiterung von Marx. Er zeigte auf, dass Foucaults Verständnis von Normation und Normalisierung von der Idee des "idealen Durchschnitts" aus Marx' Kapital stammt. Marx versteht unter dem Begriff des idealen Durschnitts die Grundstruktur des Kapitalismus, die sich erst beschreiben lässt, wenn man von regionalen und zeitlichen Unterschieden der kapitalistischen Produktionsweise abstrahiert. Zudem verwies Demirović auf Louis Althusser als Vermittler zwischen Marx und Foucault. In Anlehnung an Foucault argumentierte Demirović, dass man die Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft zwar als Subjektivierungsleistung verstehen muss, dabei aber nicht wie Althusser von ideologischen Staatsapparaten auszugehen hat. Anders als Foucault lässt Demirović den Begriff der Ideologie allerdings nicht fallen, sondern führt ihn mit dessen Machtanalyse eng. Demirović unterscheidet zwischen souveräner, disziplinarischer und biopolitischer Macht, was für ihn die Reduktion auf den Staatsapparat obsolet macht. Für Demirović steht Foucault Marx näher als Althusser und verwies wiederum auf die Formulierung "nietzscheanischer Kommunist" (Foucault 1980, 63).4
Johanna Oksala (Chicago) argumentierte, dass sich Foucault nicht als Marxist vereinnahmen lässt. Zwar baut Foucaults Machtbegriff auf Marx auf, aber Foucaults Ausdifferenzierung und Polyvalenz des Machtbegriffs eignet sich besser für kritische sowie intersektionale Analysen des Kapitalismus. Nach Oksala braucht das linke Denken gegenwärtig ein Machtkonzept, das erlaubt, Ökonomie und intersektionale Formen der Subjektivierung zusammenzubringen.
3. Der aktivistische Foucault
Matteo Polleri (Paris) hob in seinem Vortrag die "Familienähnlichkeit" zwischen Marx und Foucault in Fragen der politischen Epistemologie hervor: Die Analysen beider Denker tragen zur Selbstaktivierung von Minderheiten und Unterdrückten bei. Polleri las Schriften von Marx und Foucault im Sinne der "militant investigation" des Operaismus – einer postmarxistischen Strömung im Italien der 1960er Jahre, die mit ihren Analysen auf politische Bewusstseinsbildung abzielte. Als Beispiel führte Polleri sowohl Marx' "Fragebogen für Arbeiter" von 1880 als auch Foucaults "Les enquêtes-intolérance" der Groupe d‘information sur les prisons (GIP) an, die sich für die Rechte von Häftlingen einsetzte und von 1971 bis 1972 bestand. Polleri zufolge teilen Marx und Foucault einen epistemologischen Standpunkt, den er als partikular, situiert sowie subversiv und doch anti-normativ beschreibt.
Joe Grant (Warwick) beleuchtete in seinem Beitrag die Parallelen zwischen den journalistischen Arbeiten von Foucault und Marx. Grant zufolge gehen beide Denker auch einem philosophischen Journalismus nach, der die Gegenwart zum Ausgangspunkt für kritisch-historische Analysen macht. Grant verglich Foucaults Berichterstattung zur iranischen Revolution von 1979 mit Marx' Reflexion der Februarrevolution von 1848 in Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon.5
4. Foucault und (post)marxistische Denker:innen
Die Beiträge von Phoebe Braithwaite (Harvard), Adam Takács (Budapest) und Rosa Martins (Paris/Chicago) versuchten, Foucault mit marxistisch geprägten Denkern wie Stuart Hall, Georg Lukács und Theodor W. Adorno engzuführen. Braithwaite diskutierte das Verhältnis von Foucault und Stuart Hall. Sie betonte dabei insbesondere die Metaphorizität und Variabilität des Foucault'schen Begriffsrepertoires. Für Braithwaite stützen Foucaults fluide Begriffe ein Denken fluider, queerer Identitäten, das rigide und hierarchische Identitätskonzeptionen sprengt. Hall schließt an Foucaults Machtbegriff an, um zu zeigen, dass ein unveränderliches, authentisches "Selbst" nicht existiert. Braithwaite führte aber auch Divergenzen zwischen Foucault und Hall ins Treffen, etwa wenn Hall Foucault eine Mystifizierung des Körpers vorwirft: Der Körper fungiere bei Foucault wie ein transzendentales Signifikat, von dem aus Widerstände gegen Machteinwirkungen ausgehen. Insofern funktioniere der Körper bei Foucault als Ersatz für ein essentialistisch verstandenes Selbst. Gegen Hall argumentierte Braithwaite, dass man trotz fluider Identität ein Wissen um die eigene Situierung und damit über das eigene Selbst benötigt, um Widerstand gegen Machtrelationen zu leisten.
Adam Takács verglich Foucaults genealogische Studien mit Georg Lukács' historischem Zugang in Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923. Sowohl Foucault als auch Lukács nehmen die Analyse der Gegenwart als Ausgangspunkt für ihre historischen Studien. Obwohl das dialektische Denken von Lukács dem genealogischen Zugang Foucaults entgegensteht, führte Takács den Vergleich mit dem Ziel, Foucaults Denken nach konkreten historischen Akteuren zu befragen, die man ähnlich wie bei Lukács für sozialen Wandel und soziale Kämpfe verantwortlich machen könnte. Foucault habe zwar beschrieben, dass Kämpfe historisch dann auftreten, wenn sich neue Formen der Macht herausbilden. Nach Takács lässt Foucault jedoch offen, wie diese Kämpfe konkret zustande kommen. Takács stellte dahingehend die Frage, welche Formen der Subjektivität vorauszusetzen sind, damit Widerstände und soziale Kämpfe entstehen können.
Rosa Martins (Paris/Chicago) verteidigte in ihrem Beitrag ebenso die Idee von human agency, die sie als Motor der Geschichte versteht. In dieser Hinsicht zielt sie, ähnlich wie Takács, darauf ab, Foucaults Schweigen zum möglichen historischen Akteur des sozialen Wandels mit Marx und insbesondere Adorno zu korrigieren.
5. Ideologie und soziale Reproduktion im Kapitalismus
Théo Favre Rochex (Paris) führte in die Debatte um Foucaults Kritik am Ideologiebegriff ein, was auch das Verhältnis zu seinem ehemaligen Lehrer Althusser zu verstehen hilft. Rochex brachte den Begriff der "Politik der Wahrheit" ins Spiel, mit dem Foucault eine Alternative zur Ideologietheorie sucht. Politiken der Wahrheit definieren nach Foucault Diskursarten, "die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden" (Foucault 1977a, 210). Während der Ideologiebegriff laut Foucault mit einer "Ökonomie des Nicht-Wahren" operiert (Foucault 1977b, 346), befasst sich die Wahrheitspolitik mit der Frage, wie Wahrheit in Gesellschaften wirkt und stabilisiert wird. Rochex griff auch Foucaults Kritik an Althussers Begriff des "epistemologischen Bruchs" auf (vgl. Foucault 1969, 12–13), d.h. die Vorstellung, dass sich eine wahre Wissenschaft von der Ideologie ihrer Vergangenheit befreit (Althusser 1968, 106). Obwohl Foucault auf dem Unterschied zwischen Wahrheitspolitik und Ideologie besteht, versuchte Rochex, beide miteinander zu versöhnen, indem er aufzeigte, dass sich Foucaults Kritik am Ideologiekonzept nur an einem bestimmten französischen Marxismus Althusser'scher Prägung abarbeitet.
Die Ideologie spielt auch dort eine Rolle, wo sie als Maßnahme der sozialen Reproduktion jenseits der rein ökonomischen Dimension des Kapitalismus verstanden wird. Althussers Begriff der Interpellation, der Anrufung der Subjekte durch die Institutionen des Staatsapparats, erlaubt laut Francesco Aloe und Chiara Stefanoni (Lüneburg), die Funktionsweise der sozialen Reproduktion besser zu verstehen. Die soziale Reproduktion bedarf nicht nur der materiellen Reproduktion, sondern auch der ideologischen Reproduktion. Sie machten weiterhin geltend, dass die ideologische Anrufung kein präexistentes Subjekt voraussetzt und dass Althussers berühmte Szene, in der ein Polizist einen Passanten anspricht (vgl. Althusser 1995, 88–89), nur exemplarisch zu verstehen ist. Aloe und Stefanoni erinnerten daran, dass die feministische Theoretikerin Teresa de Lauretis Althussers Ideologietheorie mit Foucaults Sexualitätsdispositiv engführt, um die Techniken der sozialen Reproduktion von Gender zu untersuchen. Laut de Laurentis ist der Zwang zur Genderperformanz Teil des ideologischen Apparats, der die Individuen auch in ihrer sexuellen Orientierung immer schon bestimmt. Damit argumentierten Aloe und Stefanoni, dass in der sozialen Reproduktion des Kapitalismus unweigerlich auch eine biopolitische Komponente am Werk ist.
6. Biopolitik
Friederike Beier (Berlin) nahm eine ähnliche Perspektive wie Stefanoni und Aloe ein und machte insbesondere den Foucault'schen Begriff der Biopolitik stark. Sie unterstrich damit den Konnex zwischen biologischer und sozialer Reproduktion im Kapitalismus. In Sexualität und Wahrheit I (1976) versteht Foucault unter Biopolitik eine seit dem 18. Jahrhundert in Europa erstarkende Form der Regierung von Menschen. Die Kontrolle über Bevölkerungsphänomene wie öffentliche Gesundheit und Hygiene, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, Migrationsbewegungen und Lebensdauer gelingt dabei maßgeblich über die biologische Kategorie des Lebens (vgl. Foucault 1976, 135).6 Während die Disziplinen auf die Individuen zielen, zielt die Biopolitik auf die Bevölkerung. Beier erkennt in der Reproduktion der Arbeitskraft das biopolitische Kalkül zur Steigerung des Lebens. Dabei ist die soziale Reproduktion im Kapitalismus stark durch Gendernormen geregelt. Auch gegenwärtig wird mit der Kategorie Gender Biopolitik betrieben. Am Beispiel der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen und deren Fokus auf child care veranschaulichte Beier, wie die internationale Politik im letzten Jahrzehnt vermehrt das Thema der sozialen Reproduktion für sich entdeckte. Nach Beier ist zu bedenken, dass sich Staaten marxistisch-feministisches Wissen strategisch aneignen, um dadurch die Geschlechtergleichstellung sowie die Familien- und Sozialpolitik als Wegbereiter für die "wirtschaftliche Ermächtigung" von Frauen zu rahmen. Derartige Politiken übersehen nach Beier einerseits die soziale Reproduktion von queeren und trans Personen sowie die Rolle der Sorgearbeit in der kapitalistischen Reproduktion andererseits.
Antonio Cerquitelli (Padova) beschäftigte sich ebenfalls mit dem Begriff der Biopolitik, zielte aber stärker auf Marx' Kapital. Wie Foucault betone auch Marx, dass das Kapital als biopolitische Maschinerie fungiert, die eine Steigerungslogik impliziert, eine Steigerung der körperlichen Leistung, also der Arbeitskraft. Für Cerquitelli bedeutet das, dass das Kapital die Fähigkeit der Arbeiter:innen zu produzieren kontrolliert. So schlägt er auch die Brücke zu Marx' Analyse, dass das Kapital nicht nur die Arbeitskraft, sondern aufgrund der umfassenden Ausbeutung jede Ausdrucksform der Arbeiterklasse kontrolliert. In seinem kontrovers diskutierten Beitrag brachte Cerquitelli außerdem in Anschlag, dass für Marx die Arbeiter:innen "moderne Subjekte" darstellen, weil diese keine Subsistenzwirtschaft mehr betreiben. Da die Arbeiterklasse dem Kapital unterworfen ist, kann sie die Freiheit von der Subsistenz nicht in Handlungsautonomie umsetzen. Daran anschließend meint Cerquitelli, dass der Kapitalismus somit zwar moderne Individuen hervorbringt, die es aber im Anschluss an Marx noch zu befreien gilt. Dies gelingt, so Cerquitelli in Anlehnung an Marx, über eine Dis-identifikation der Arbeiter:innen mit ihrer Arbeit. Diese Dis-identifikation differenzierte Cerquitelli vom prominenteren Verständnis der Entfremdung in den Manuskripten von 1844, wo die Entfremdung als Entäußerung der Arbeit definiert wird.7
Isabelle Garo (Paris) richtete ihren Vortrag ebenfalls an Fragen der Biopolitik bei Foucault und Marx aus. Ebenso wie Cerquitelli konstatiert Garo, dass der Kapitalismus als biopolitische Maschinerie zu bewerten ist. Darüber hinaus ist sie der Ansicht, dass man angesichts der Coronakrise und neuerer Gesundheitspolitiken den Begriff der Biopolitik ergänzen und über Foucault hinaus denken muss. Damit argumentiert sie aber meines Erachtens ganz im Sinne Foucaults, denn dieser verstand seine Arbeiten als historische Ereignisse, die als Beiträge zu einer "Geschichte der Gegenwart" konzipiert waren (Foucault 1975, 43).8 Ändert sich die Gegenwart, so müssen sich auch unsere Analysen ändern.
7. Zeitregime
Zurück zu Foucaults Analyse der Disziplinarmacht und insbesondere der Rolle der Zeit im Disziplinarprozess führten die Beiträge von Yari Lanci (Sussex) und Johann Szews (Magdeburg). Lanci kritisierte Foucaults Kritik des Marx'schen Begriffs der Arbeit. Foucaults Hinweis, dass die "Zeit und das Leben der Menschen […] nicht von Natur aus Arbeit" sind, sondern ebenso sehr "Vergnügen, Diskontinuität, Feiern, Ausruhen, Bedürfnis, Momente, Zufall, Gewalt, etc." (Foucault 1972/73, 316), übersehe Marx' analytische Trennung zwischen Arbeitsvermögen und Arbeitskraft, wodurch nach Lanci der Eindruck entsteht, dass Marx ein anthropologisches, überzeitliches Verständnis der Arbeit verteidigt. Später betonte Isabell Lorey (Köln), dass der Vorwurf der Anthropologisierung auch daher rührt, dass Marx in den Manuskripten von 1844 von Entfremdung spricht. Lanci stimmte mit Lorey überein, dass die Disziplin als Form der Macht sowie die Rolle der abstrakten Zeit nicht mit Entfremdung gleichzusetzen ist.
Szews unterstrich die Bedeutung einer abstrakten, homogenen Newton'schen Zeitkonzeption für den Faktor Arbeit im Kapitalismus. Mit dem kanadischen Historiker Moishe Postone stellte Szews heraus, dass es die zeitliche Vermittlung ist, die zentrale Kategorien wie Ware, Arbeit und Wert in Beziehung miteinander setzt. Erst ein modernes Zeitregime, das die Zeit der Arbeiter:innen kontrolliert und eine abstrakte Zeitform entstehen lässt, sozialisiert Individuen nach Postone zu disziplinierten Arbeiter:innen und ermöglicht darüber hinaus die Repräsentation des Warenwerts durch Geld. Postone vergleicht die abstrakte Form der kapitalistischen Zeit mit der Funktion der Macht bei Foucault. Swezs argumentierte davon ausgehend mit Postone, dass Foucaults Machtbegriff im Sinne einer Theorie des Zeitregimes rekonstruiert werden kann.
8. Der unbekannte Foucault
Isabell Lorey (Köln) diskutierte einen in der Forschungslandschaft vergleichsweise unbekannten Foucault und fokussierte auf die Rolle der Vagabunden und Landstreicher in der Vorlesungsreihe Die Strafgesellschaft. Die Vagabunden fallen im 19. Jahrhundert nicht mit der industriellen Reservearmee zusammen, sondern bilden laut Marx eine Gruppe von Arbeitsverweigerern. Das "Lumpenproletariat", so die abschätzige Bezeichnung im Achtzehnten Brumaire, besitze kein proletarisches Klassenbewusstsein, da sie keiner Lohnarbeit nachgehen. Lorey hielt fest, dass die Vagabunden als Delinquente, Unbrauchbare, Diebe oder Faule gebrandmarkt wurden, weil sie entweder nicht arbeiten konnten oder die Arbeit verweigerten. In Foucaults Vorlesungsreihe entdeckt Lorey ein kritisches Potenzial im undisziplinierten "Lumpenproletariat". Die "Vagabondage" versteht Lorey als eine Seinsform, die sich gegen die Nutzbarmachung und Ausbeutung der Arbeitskraft richtet. Zugleich fragte Lorey in ihrem Vortrag, ob die Vagabondage auch heute noch eine Form des Widerstandes gegen die zunehmende Prekarisierung der Arbeiter:innen sein kann.9
Einen weiteren unbekannten Foucault präsentieren Judith Bastie und Isabel Jacobs (Paris/London). Für sie ist ein wichtiges Kapitel in Foucaults intellektueller Entwicklung bislang ungeschrieben, nämlich seine frühe Rezeption des sowjetischen Agronomen Trofim Lysenko. Foucaults Lesenotizen im Archiv der französischen Nationalbibliothek zeigen, dass Foucault in den 1950er Jahren die Debatten zum Fall Lysenko verfolgte. In der stalinistischen Sowjetunion propagierte Lysenko einen Lamarckismus gegen Mendels Vererbungslehre. Nach Bastie und Jacobs hat Foucaults Abkehr von Althussers Materialismus mit Lysenko zu tun, da der Fall Lysenko damals Kontroversen zum politischen Status der Wissenschaften und ihrer vermeintlich ideologischen Funktion auslösten. Zum anderen bewerten sie Foucaults Notizen zu Lysenkos Vererbungslehre als Herausbildung einer neuen Perspektive auf die Rolle der Wissenschaften in der Gesellschaft; eine Perspektive, die Bastie und Jacobs "vegetal epistemology" nennen. Mit diesem Begriff äußerten sie die Vermutung, dass Foucaults Unterscheidung zwischen diskursivem Wissen (savoir) und wissenschaftlicher Erkenntnis (connaisance), die er in der Archäologie des Wissens (1969) trifft, auf die Beschäftigung mit Lysenkos Biologie zurückgeht. Der Vermutung von Bastie und Jacobs zufolge führt die Auseinandersetzung mit Lysenko letztlich zu Foucaults Lehre der Verschränkung von Wissen und Macht.
9. Schluss: Jenseits von Marx
Eindrücklich präsentierte das Symposium in Wien zahlreiche Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Marx und Foucault. Angemerkt sei abschließend, dass sich Foucault gerade dort von Marx unterscheidet, wo er weder explizit noch implizit auf Marx verweist. Der Fokus auf die möglichen Schnittmengen zwischen Foucault und Marx bringt die Gefahr mit sich, Foucaults heterogene Neuausrichtungen und Reorientierungen zu unterschätzen. So verschiebt Foucault bspw. den Machtbegriff in Richtung der Idee des Regierens, er ersetzt den Begriff des Wissens durch den der Wahrheitsakte oder geht von der Disziplin zur Analyse der Selbsttechniken über. Diese steten Neuausrichtungen stellen womöglich die Charakterisierung Foucaults als "häretischen Neomarxisten" (Nigro) oder die Zuspitzung von Foucaults Machtbegriff auf das kapitalistische Zeitregime in Frage.
Darüber hinaus ließen sich auch die Differenzen zwischen Foucaults methodischem Rüstzeug – Diskursanalyse, archäologische Beschreibung, genealogische Analyse – und Marx' Arbeitsweise markanter herausstellen. In der Archäologie des Wissens (1969) deutet Foucault zum Beispiel das Denken in Widersprüchen als ein Kalkül einer diskursiven Praxis, um Kohärenz herzustellen. Damit zielt Foucault gerade auf die Dialektik mit ihrer zentralen Kategorie des Widerspruchs, die bei Marx sowohl ein diskusordnendes Prinzip ist als auch eine kritische Funktion besitzt. Die Widersprüche zwischen Gebrauchswert und Warenwert oder zwischen Arbeit und Kapital sowie zwischen einer kapitalistischen und einer kommunistischen Gesellschaft entspringen in der archäologischen Beschreibung keinem überzeitlichen lógos. Für die Archäologie sind die "Widersprüche weder zu überwindende Erscheinungen, noch geheime Prinzipien, die man herauslösen müßte" (Foucault 1969, 216). Insofern wäre zu unterstreichen, dass die archäologische Analyse im Kontrast zu Marx' das "Primat" des Widerspruchs aufhebt (Foucault 1969, 222).
"Man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben", appelliert Foucault einmal an seine Leser:innen (Foucault 1969, 30). Insofern sollte man auf Foucaults Selbstbezeichnung als "nietzscheanischer Kommunist" wohl nicht zu sehr insistieren. In Anbetracht der vielseitigen Beiträge der Konferenz, meine ich, ist Foucaults Appell durchaus angekommen.
Notes
- Vgl. hierzu auch den instruktiven Text zu Foucaults Kritik am Ideologiebegriff von Christian Schmidt (2021). [^]
- Vgl. die offizielle Homepage der Veranstaltung, https://foucaultmarx40.univie.ac.at/, sowie das übergeordnete Pendant, https://foucault40.info/; Zugriff auf beide zuletzt am 20.11.2024. [^]
- Einige Vortragende wie Alex Demirović (Frankfurt a. M./Berlin) oder Isabell Lorey (Köln) begrüßten ausdrücklich die thematische Ausrichtung der Konferenz, da derartige Tagungen zum Verhältnis zwischen Foucault und Marx selten seien. [^]
- Johann Szews (Magdeburg) gab in der anschließenden Diskussion zu bedenken, dass die Selbstbezeichnung "nietzscheanischer Kommunist" viel eher auf einen Text von Georges Bataille verweist als direkt auf Marx Bezug zu nehmen (Bataille 2003). Bataille zieht in seinem Essay "Nietzsche im Lichte des Marxismus" einen Vergleich zwischen Nietzsche und dem Kommunismus. Er entwickelt dabei den Gedanken, dass sowohl Nietzsche als auch die ursprüngliche Idee des Kommunismus auf die Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen und die Beförderung des "souveränen Menschen" zielt (vgl. Bataille 2003, 25). [^]
- Folgende Texte von Foucault beziehen sich in den gesammelten Dits et écrits auf die iranische Revolution: Dits et écrits Band III, Nr. 243–245 sowie Nr. 248–253. [^]
- Vgl. hierzu den Beitrag "Kritik der Biopolitik" (Krach 2021). [^]
- Vgl. hierzu auch die ausführliche "Situierung der Vorlesung" in Die Strafgesellschaft von Bernard E. Harcourt (Harcourt 2021, 392). [^]
- Eine anders gelagerte Position vertritt Philipp Sarasin, der mit Foucaults biopolitischen Modellen der Pest, der Pocken und der Lepra versucht, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie historisch zu kontextualisieren. Vgl. https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/, letzter Zugriff am 16.12.2024. [^]
- Wie Bernard Harcourt betont, geht es Foucault in den 1970er Jahren vornehmlich um eine Genealogie juristischer und politischer Praktiken, die Wahrheitseffekte zeitigen (vgl. Harcourt 2021, 358). Foucault zielt in Die Strafgesellschaft also primär auf eine Problematisierung von Wahrheitspraktiken und -regimes, seitdem er in seiner Inauguralvorlesung 1970 die Analyse der historischen Formen des Willens zur Wahrheit als Forschungsdesiderat ausgibt. [^]
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