1. Einleitung: 'Nietzsche', 'Perspektivismus' und 'Postfaktizität' unter Anführungszeichen
Wann immer es darum geht, geistesgeschichtlich Verantwortliche für das sogenannte 'postfaktische Zeitalter' auszumachen, ist Friedrich Nietzsche neben Denkern des Poststrukturalismus einer der ersten Verdächtigen: Sein berühmt-berüchtigter 'Perspektivismus' scheint eine paradigmatische Präfiguration jener Perspektivierung, Pluralisierung, Destabilisierung, Polarisierung und Emotionalisierung von Wahrheitsansprüchen zu liefern, die neuerdings mit dem Schlagwort 'post-truth' assoziiert werden.
Im Folgenden sollen drei unterschiedliche Perspektiven auf dieses Schlüsselmotiv seines Denkens skizziert werden, die zugleich verschiedene Antworten auf die Frage darstellen, ob Nietzsche als geistiger Wegbereiter jener Situation verstanden werden kann, der man derzeit mit den Neologismen 'post-truth' bzw. 'postfaktisch' begrifflich Herr zu werden versucht:1 Die erste Perspektive interpretiert den 'Perspektivismus' als radikalen Relativismus und begreift Nietzsche als Advokaten 'postfaktischer' Verhältnisse, insofern er nicht bloß die Rückbindung unserer Perspektiven an Dimensionen des Affektiv-Emotionalen unterstreicht, sondern zugleich der rücksichtslosen Durchsetzung von Machtansprüchen der jeweils stärkeren Perspektive das Wort zu reden scheint. Die zweite Perspektive nimmt Nietzsche gegen diese Vorwürfe in Schutz. Sie repräsentiert eine weitaus moderatere Lesart, die den 'Perspektivismus' als eine Art kritischen Naturalismus deutet, der sich zwar gegen überzogene metaphysische Objektivitätsansprüche wendet, dabei jedoch jene 'relativistische Beliebigkeit' vermeidet, die vielfach als Charakteristikum des 'Postfaktischen' erachtet wird. Die dritte Perspektive zieht schließlich in Zweifel, ob unter 'Perspektivismus' überhaupt so etwas wie eine mehr oder minder stark relativistisch konnotierte epistemologische Theorie Nietzsches verstanden werden sollte, mit Bezug auf die sich die Frage nach seinem Verhältnis zum Problemkomplex der Postfaktizität derart unmittelbar beantworten ließe. Dieser Lesart zufolge liegt das, was sich von Nietzsche für die 'post-truth'-Debatten lernen lässt, weniger in einer bestimmten erkenntnistheoretischen Positionierung als in der genealogischen Reflexion auf den perspektivischen Charakter und die normativen Hintergründe solcher Positionierungen. In diesem Fokus auf die perspektivische Situiertheit und die genealogische Bedingtheit epistemischer bzw. epistemologischer Formationen liegt zugleich eine Parallele zur Nietzsche-Rezeption Michel Foucaults.
Obgleich ich die dritte Perspektive exegetisch wie sachlich für die spannendste halte, lassen sich auch die ersten beiden Lesarten durchaus interpretativ plausibilisieren. 'Nietzsche' steht daher im Titel unter Anführungszeichen: Vielleicht mehr als bei anderen Denkern bleibt nachhaltig umstritten, was er eigentlich gemeint hat – sein Name ist ein Kampfplatz einer kaum noch zu überblickenden Vielfalt unterschiedlicher Deutungsperspektiven mit je unterschiedlichen Hintergründen, Plausibilitätskriterien, Interessen und ideologischen Vorbehalten. Er ist daher nicht nur einer der ersten Verdächtigen, wenn es um die geistige Ahnherrschaft des 'Postfaktischen' geht: Auch die Umstrittenheit, Vielgestaltigkeit und notorische Nicht-Festlegbarkeit seiner Philosophie bilden motivische Affinitäten zu diesem Problemkomplex. Provokant formuliert, könnte Nietzsches Denken nicht nur inhaltlich, etwa mit dem Motiv des 'Perspektivismus', eine 'Philosophie des Postfaktischen' antizipieren, sondern in ihrer diskursiven Fragmentierung und Polarisierung zugleich in einem formal-methodischen Sinne als eine Art 'postfaktische Philosophie' erscheinen, die uns zur Reflexion unserer interpretativen Standpunkte und Interessen, ihrer Frontstellungen und rhetorischer Strategien gegenüber alternativen Deutungsoptionen zu provozieren vermag.
Dass der Ausdruck 'Perspektivismus' im Titel unter Anführungszeichen steht, erklärt sich nicht nur durch die Triplizität des Motivs in den drei Lesarten, sondern hat überdies philologische Gründe:2 In den 1880er Jahren war der heute geläufige Ausdruck noch nicht gebräuchlich und tatsächlich ist bis dato keine Verwendung vor Nietzsche nachgewiesen, sodass die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass er die Suffixderivation selbst geprägt hat. Zugleich finden sich im Korpus seiner Schriften und Aufzeichnungen bloß eine Handvoll Belege, von denen wiederum nur ein einziger im veröffentlichten Werk auftritt. Überdies ist keineswegs ausgemacht, ob er den Ausdruck überhaupt in jenem Sinne verstanden hat, wie wir ihn heute zu verwendenden gewohnt sind, nämlich zur Bezeichnung eines gewissen philosophischen Standpunktes respektive einer Lehrmeinung, oder aber bloß in jenem Sinne, wie etwa auch im Bereich der Medizin gewissen Ismen wie 'Astigmatismus' oder 'Metabolismus' keine Standpunkte, Schul- oder Lehrmeinungen bezeichnen, sondern Phänomen- oder Problemkomplexe. 'Perspektivismus' könnte demgemäß bloß ein Name für jenes Phänomen der Perspektivität sein, das Nietzsche bisweilen auch als 'das Perspektivische' anspricht. Während sich einige der Belege ausschließlich in diesem zweiten Sinne interpretieren lassen, ist in anderen Fällen auch die Deutung im ersten Sinne möglich. Davon, dass Nietzsche den Ausdruck auf breiter Front zur Etikettierung eines seiner zentralen Philosopheme oder gar seiner Philosophie im Ganzen verwendet, wie die geläufige Rede von 'Nietzsches Perspektivismus' suggeriert, kann jedoch keine Rede sein. Dies zu monieren, mag zunächst wie eine philologische Spitzfindigkeit wirken, doch mit Bezug auf einen Denker, der von sich selbst sagt, dass er "eine Nuance"3 sei, ist es von eminenter Bedeutung, ob er eine seiner wichtigsten kritischen Denkfiguren wiederum auf einen positiven Begriff von der Art einer Schulbezeichnung bringt oder nicht.
Dass nicht zuletzt auch 'Postfaktizität' unter Anführungszeichen steht, erklärt sich durch Rückfragen sowohl hinsichtlich der zeitdiagnostischen Plausibilität des damit Gemeinten als auch hinsichtlich der begrifflichen Präzision der Bezeichnung: Beispielsweise wird vielfach eingewandt, dass der 2016 zum "Wort des Jahres" gewählte Ausdruck "postfaktisch"4 insofern irreführend sei, als er, insbesondere wenn von einem 'postfaktischen Zeitalter' die Rede ist, die Existenz respektive die Möglichkeit der Demarkation einer davor liegenden, 'faktischen' Periode zu unterstellen scheint.5 Gegen diese Suggestion lässt sich geltend machen, dass auch früher vielfach in Streit stand, was 'wahr' oder 'objektiv' sei, und dass auch früher gerade im Bereich politischer Meinungsbildung Emotionen und Affekten eine zumindest ebenso maßgebliche Rolle gespielt haben wie sachlich-rationale Abwägung.6 Auch ob sich heutige 'postfaktische' Politik trennscharf von früheren Formen der Demagogie und Propaganda abgrenzen lässt, wird kontrovers diskutiert: Genügt diesbezüglich der Befund, dass heute quantitativ öfter und offenkundiger mit Lügen operiert wird, wobei auch das Eingeständnis von Lügen kein politisches Hindernis mehr darstellt?7 Hinzu kommt, dass es sich – wenigstens den gängigen Wörterbuchdefinitionen8 zufolge – um einen Kampfbegriff handelt, der selbst 'postfaktisch' wirkt:9 In der Definition, dass sich Menschen nicht mehr an wissenschaftlich gesicherte Fakten halten, sondern bloß ihren Gefühlen folgen, schwingen fraglos hegemoniale Ansprüche einer gebildeten Wissenschaftskultur und eine damit einhergehende Abwertung jener Menschen mit, die gerne als affektgeleitete Protestwähler typisiert werden.10
Trotz all solcher Bedenken zeigt schon die inflationäre Verwendung des Ausdrucks dies- und jenseits des Feuilletons, dass er eine sprachökonomische Marktlücke zur Bezeichnung einer soziokulturellen Situation zu bedienen vermag, die nicht auf die in den Wörterbuchdefinitionen betonte Abkehr von Faktengläubigkeit zugunsten von Emotionen und Affekten beschränkt ist, sondern eine ganze Reihe weiterer Aspekte und Phänomene mit einschließt. Zu nennen wäre hier vor allem die Vervielfältigung und Beschleunigung von Informationsangeboten11 sowie eine neuartige, netzförmige Strukturierung potenziell infiniter Kommunikationsverhältnisse:12 Informationen sind heute schon alleine ob ihrer schieren Masse sowie ihrer raschen Abfolge13 zunehmend schwieriger zu verifizieren oder falsifizieren. In einer durch soziale Medien geprägten Kommunikationslandschaft werden sie nicht mehr primär in einseitigen Verhältnissen von wenigen, redaktionell organisierten und dabei sowohl verzögernd als auch filternd wirkenden Quellen vermittelt, sondern es kann prinzipiell jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt für unzählige Rezipienten zur 'Quelle' werden. Massenkommunikation ist nicht mehr bloß monodirektional, sondern zu einem wesentlichen Teil multidirektional organisiert, dabei aber zugleich automatisierten, marktwirtschaftlich strukturierten Filter- und Verbreitungsökonomien unterworfen, die regelrechte "Wahrheitsmärkte" entstehen lassen: "Was viele Likes und Links erhält, was bewertet und weitergeleitet wird, ist wahrer als der Fakt, für den sich niemand interessiert."14 Hinzu kommt unter dem Schlagwort fake news ein gewisses Verdachtskalkül, eine Praxis des In-Zweifel-Ziehens, die auch wo sie gerade nicht aktiv vollzogen wird ein Klima der Subversion befördert, in dem zumindest grundsätzlich ständig damit gerechnet wird, dass Faktenbehauptungen bestritten oder durch 'alternative Fakten' konterkariert werden bzw. dass eine bestimmte praktische, z.B. moralische oder politische Interessiertheit wenn nicht gar ein propagandistisches Kalkül unterstellt wird. Mit diesen Tendenzen verbindet sich vielfach ein krisenhaftes Bewusstsein von Verunsicherung und Haltlosigkeit, das durch den Eindruck gesellschaftlicher Polarisierungen anhand unterschiedlichster kultureller, ökonomischer, ideologischer oder religiöser Bruchlinien verstärkt wird: Selbst wenn diese Bruchlinien – Filterblasen und Echokammern sei Dank – nicht immer in ihrer vollen Drastik aufbrechen und dementsprechend konträre Perspektiven unvermittelt aufeinanderprallen, ist doch zumindest ihre Existenz kaum übersehbar und, damit einhergehend bzw. darauf reagierend, eine ausgeprägte Sehnsucht nach einheitsstiftenden Narrativen, nach abgeschottet funktionierenden Sprachspielen, nach unhinterfragten Oberflächen, nach gemeinsamem Halt an als verbindlich Unterstelltem. All dies führt dazu, dass die Möglichkeit unterschiedlicher, unterschiedlich interessierter Perspektiven darauf, was 'wahr' oder 'faktisch' ist, heute vielleicht tatsächlich offenkundiger und omnipräsenter wirkt denn je. So lässt sich zwar nicht trennscharf ein einzelnes Kriterium isolieren, anhand dessen sich das 'postfaktische' Zeitalter gegen ein anderes abgrenzen ließe; als Bezeichnung für eine in sich komplexe Gemengelage unterschiedlicher Verunsicherungsfaktoren in Verbindung mit neuartigen Medienstrukturen erscheint der Begriff jedoch bei aller Problematizität durchaus treffend – und zwar nicht trotz, sondern gerade aufgrund seiner autoreferenziellen Charakteristik, dass er selbst als Ausdruck 'postfaktischer' Polarisierung und Verunsicherung verstanden werden kann, der dabei zugleich als diese verstärkendes Dispositiv wirkt.15 Die unbeschadet aller Fragwürdigkeit diagnostisch plausibel erscheinenden Konnotationen des Begriffs, die insbesondere hinsichtlich des Aspekts der Vervielfältigung und konfrontativen Profilierung von emotional-affektiv motivierten Standpunkten eine gewisse Affinität zum Motivkomplex des 'Perspektivismus' in Nietzsches Denken aufweisen, werden im Folgenden als Orientierung dienen.16
2. Erste Perspektive: Perspektivismus als radikaler Relativismus – der postfaktische Nietzsche
Die erste Lesart rekonstruiert den 'Perspektivismus' als eine radikal relativistische oder auch konstruktivistische Position, die sowohl in erkenntnistheoretischer als auch in moralphilosophischer Hinsicht allgemeine Verbindlichkeit ausschließt. Nietzsche erscheint in dieser Hinsicht als geistiger Ahnherr jener, die sich der Klaviatur der 'postfaktischen' Politik- und Medienlandschaften mit rücksichtsloser Virtuosität bedienen. So erklärt beispielsweise der republikanische Trump-Kritiker Peter Wehner in seiner Kolumne in der New York Times vom 5.7.2016: "Trump embodies a Nietzschean morality rather than a Christian one. It is characterized by indifference to objective truth (there are no facts, only interpretations)."17 Wehner spielt hier auf das Nachlassnotat 7[60] an, das einen der wenigen Belege für die Verwendung des Ausdrucks "Perspektivismus" enthält und das aufgrund der vielfach isoliert zitierten Formulierung "Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen"18 im Kontext der Postfaktizitätsdebatten zu einem paradigmatischen Bezugspunkt geworden ist.19 Bereits die zahlreichen Bezugnahmen auf dieses Schlagwort verdeutlichen, dass sich jene Debatten nicht bloß um den in den Wörterbuchdefinitionen betonten Vorrang von Emotionen vor Fakten drehen, sondern zugleich um so altehrwürdige philosophische Fragen, wie ob es überhaupt streng objektive Fakten gibt bzw. was darunter zu verstehen sei. Die Diskussionen um das Problem der Postfaktizität erweisen sich dahingehend als verzahnt mit älteren wie jüngeren philosophischen Kontroversen zwischen relativistischen sowie konstruktivistischen Positionen auf der einen und realistischen Positionen auf der anderen Seite. So unterstreicht etwa auch Markus Gabriel nach einer verkürzten Zitation des Notats 7[60]:
Nietzsche [drückt] einen Gedankengang aus, der heute in allen Wissen-schaften prominente Vertreter hat. Nennen wir diesen Gedanken, von dem ich mich schon in der Einleitung abgegrenzt habe, den 'Konstruktivismus'. Unter 'Konstruktivismus' verstehe ich die Annahme, dass wir 'kein Faktum 'an sich' feststellen' können, sondern alle Fakten oder Tatsachen selbst konstruiert haben.20
Ganz ähnlich wird Nietzsches Aufzeichnung auch von Gabriels Mitstreiter in Sachen 'Neuer Realismus', Maurizio Ferraris interpretiert:
[T]he real outcome of Nietzsche's principle that 'There are no facts, only interpretations', which only a few years earlier philosophers proposed as the way to emancipation, […] in fact presented itself as the justification for saying and doing whatever one wanted. Thus the true meaning of Nietzsche's motto turned out to be rather: 'The reason of the strongest is always the best.'21
Bemerkenswert ist an den Bezugnahmen Wehners und Ferraris, dass sie jeweils eine mehr oder minder unmittelbare Verknüpfung epistemologischer und moralphilosophischer Fragen unterstellen: Aus der These, dass es keine Tatsachen, sondern bloß Interpretationen gebe, soll sich eine 'Nietzschean morality' der rücksichtslosen Durchsetzung der eigenen Perspektiven ergeben. Nietzsche erscheint so als Stichwortgeber jener 'anything goes'-Mentalität, die vielfach als Charakteristikum 'postfaktischer' Politik verstanden respektive als 'postfaktische Beliebigkeit' etikettiert wird.22 Wehner verweist zum Beleg auf den zweiten Abschnitt von Der Antichrist, wo es heißt: "Was ist gut? — Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? — Alles, was aus der Schwäche stammt."23
Bei aller augenfälligen Grobheit und polemischen Zuspitzung solcher argumentativer Indienstnahmen Nietzsches sollte der ersten Lesart eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden. Ein Insistieren auf dem fundamental perspektivischen, interpretativen Charakter unserer Erkenntnisvollzüge bei gleichzeitiger Zurückweisung einer 'Realität an sich' findet sich nicht nur in Nietzsches mit philologischer Vorsicht zu genießenden nachgelassenen Aufzeichnungen, sondern etwa auch im zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral, der hier als zentrale Textgrundlage dienen soll.24 Dort findet sich die berühmte Formulierung, dass es "nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches 'Erkennen'" gebe und "'Erkenntniss an sich'" ein "contradiktorische[r] Begrif[f]" sei.25 Auch dass Nietzsche immer wieder die Rückbindung jener perspektivisch-interpretativen Erkenntnisvollzüge an die Dimensionen des Triebhaft-Affektiven betont, ist nicht von der Hand zu weisen.26 Prägnant heißt es etwa im Notat 7[60], dass es "[u]nsre Bedürfnisse sind […], die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider".27 Auch im genannten Abschnitt der Genealogie werden die "aktiven und interpretirenden Kräfte […], durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird" mit "Wille", "Affekten" und "Affekt-Interpretationen" assoziiert.28 Nietzsches tiefgreifende Skepsis gegenüber starken Objektivitätskonzeptionen sowie die Betonung der Prägung individueller Interpretations-Perspektiven durch Triebe und Affekte weisen ohne Frage grundlegende Parallelen sowohl zu den Wörterbuchdefinitionen von 'Postfaktizität' als auch zur darüber hinausgehenden Assoziation mit einer Pluralisierung und Destabilisierung von Wahrheitsansprüchen auf. Dass Nietzsche überdies nicht nur ständig mit Perspektivenkonflikten rechnet, sondern mit der – freilich primär im Nachlass erprobten – Konzeption einer Pluralität interpretierender 'Willen zur Macht' grundsätzlich von einem Konkurrenzkampf der Interpretationen ausgeht, der wesentlich durch Herrschaftsverhältnisse, Machtinteressen und deren Durchsetzung mit allen taktischen und rhetorischen Mitteln geprägt ist, erinnert ebenfalls an die einleitend skizzierten Konnotationen des Begriffs. Schließlich lässt sich kaum bestreiten, dass Nietzsche gerade im Horizont der Denkfigur des 'Willens zur Macht' immer wieder nachdrücklich Partei für unterschiedliche Figurationen des bzw. der 'Starken' und gegen die 'Schwachen' zu ergreifen und damit auf den ersten Blick einer Art 'Recht des Stärkeren' das Wort zu reden scheint.29 Kurz: Dass Nietzsche immer wieder als Vordenker des 'postfaktischen Zeitalters' genannt wird, ist in zentralen Motiven durchaus konsequent und – obwohl dies vielfach Hand in Hand geht – nicht einfach nur das Resultat oberflächlicher Karikaturen seines Denkens.
Gut belegen lässt sich dies anhand der jüngsten Monographie Werner Stegmaiers, der auf der Basis seiner jahrzehntelangen intensiven Auseinandersetzung mit Nietzsches Texten grundlegende Parallelen zwischen dessen 'Perspektivismus' und Niklas Luhmanns systemtheoretischem Konstruktivismus herausarbeitet. Stegmaier bezeichnet beide Denker ausdrücklich als "Anti-Realisten" und spricht von "Relativismus" – Charakterisierungen, vor denen das Gros der zeitgenössischen Nietzsche-Forschung zurückschreckt.30 Auch für Stegmaier folgt daraus freilich nicht einfach 'Beliebigkeit', doch Nietzsches und Luhmanns Denkansätze sind für ihn gerade und nur deshalb zukunftsfähig, weil sie jegliche Option eines festen, unbedingten Haltes in der 'Haltlosigkeit' potenziell unendlicher Perspektivenvielfalt ausschließen. Obwohl der Begriff des Postfaktischen in Stegmaiers 2016 erschienener Studie noch nicht fällt, erinnert seine Beschreibung des 'Nihilismus' als Situation umfassender 'Haltlosigkeit' und Desorientierung, in der Halt und Stabilität stets nur relativ und temporär im Zuge rekursiver Operationen gestiftet werden können, doch frappant an Phänomene wie die wachsende Verunsicherung hinsichtlich der Verlässlichkeit medialer Berichterstattung oder die rekursiv-selbstreferenzielle Stabilisation von Inhalten in Echokammern. Auch in dem mit Luhmann gesetzten prinzipiellen Vorrang von Kommunikation und Beobachtung im Gegensatz zu traditionellen Repräsentationsmodellen, die von einem vorausgesetzten Objekt statt von dessen diskursiven Konturierungen ausgehen, spiegelt sich die 'postfaktische' Krise der Vorstellung einer unproblematischen, medienneutralen bzw. kommunikationsunabhängigen Faktizität. Stegmaiers Studie steht in markantem Kontrast zu den ideologischen Zerrbildern und stereotypen Verkürzungen Nietzsches, die ihn als geistigen Ahnherrn Donald Trumps karikieren, und zeigt damit eindrucksvoll, dass sich die genannten Affinitäten zwischen Nietzsches Philosophie und zentralen Denkfiguren des Postfaktischen auch aus einer ihm gegenüber systematisch positiv eingestellten und exegetisch auf hohem Niveau operierenden Perspektive plausibilisieren lassen. Freilich ist Stegmaiers Einschätzung der ethischen Konsequenzen von Nietzsches Denken meilenweit von jener Wehners oder Ferraris entfernt: Doch wenngleich aus der "Perspektivierung der Moral",31 in der nach Stegmaier Nietzsches moralphilosophische Revolution liegt, alles andere als ein einfaches 'Recht des Stärkeren' folgt, geht mit ihr allemal auch jede unbedingte Handhabe gegen die Beanspruchung eines solchen Rechtes verloren – und eben dies ist eine der Konsequenzen, die viele Nietzsche-Interpreten ebenso fürchten wie jene, die sich angesichts der Skrupellosigkeit 'postfaktischer' Politik wieder verstärkt zu 'robusteren' Moralkonzeptionen hingezogen fühlen.
3. Zweite Perspektive: Perspektivismus als kritischer Naturalismus – der moderate Nietzsche
Dass 'ihr' Philosoph ein Wegbereiter für die Politik Donald Trumps gewesen sein könnte, ist für viele Nietzsche-Forscher eine wenig schmeichelhafte Vorstellung. Dementsprechend wird Nietzsche vielfach dahingehend gegen derlei Assoziationen in Schutz genommen, dass der 'Perspektivismus' weder ein epistemologischer noch ein ethischer Relativismus und daher auch kein Wegbereiter des 'postfaktischen Zeitalters' sei.32 So hat etwa Helmut Heit kürzlich mit Bezug auf das Notat 7[60] argumentiert, dass die dort vorgeschlagene Alternative zum 'Objektivismus' kein 'Subjektivismus', sondern eine Art 'Anthropozentrismus' sei, im Rahmen dessen sich Interpretationsperspektiven evolutionär bewähren müssten, sodass durchaus bessere und schlechtere Interpretationen unterschieden werden können.33 Perspektivität erscheint so weniger als individuelle, sondern eher als gattungsspezifische Standpunkt-Relativität, die an die Rolle der transzendentalen Anschauungsformen bei Kant bzw. der physiologischen Organe im Neukantianismus erinnert.34 Als solche wäre sie keineswegs beliebig und weit weniger variabel bzw. individuell divergierend als wenn man das Motiv auf singuläre, durch Triebe und Affekte bestimmte Perspektiven bezieht. Unterstreicht man dergestalt die Möglichkeit einer empirisch-evolutionären Bewährung von Perspektiven, erscheint Nietzsche in der Tat "[f]ar from assuming equal validity for any powerful proposition".35 Mit dem Hinweis auf den interpretativen Charakter und die 'Wertgeladenheit' von Tatsachenbehauptungen gehe es ihm nicht um eine radikal relativistische oder skeptizistische Position, sondern primär um die Kritik überzogener Objektivismen.36 Wie Heit anhand zentraler Aspekte aus Nietzsches Lektürekontext zeigt, war eine derartige moderat relativistische (oder, vielleicht besser: anti-objektivistische) bzw. kontextualistische Kritik an traditionellen metaphysischen Konzeptionen von Wahrheit und Objektivität zu Nietzsches Zeit in Philosophie und Wissenschaft bereits weit verbreitet und nicht zuletzt deshalb "a reasonable epistemic attitude".37
Heits Argumentationsstrategie weist wesentliche Parallelen zu Grundzügen der 'naturalistischen' Nietzsche-Deutungen auf, die insbesondere in der anglophonen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten eine bemerkenswerte Konjunktur erfahren haben.38 Auch führende Vertreter dieses Deutungsansatzes wie Maudemarie Clark oder Brian Leiter argumentieren, dass sich Nietzsches Angriffe auf traditionelle, metaphysische Objektivitätskonzeptionen am besten über seine Auseinander-setzung mit dem Neukantianismus und den zeitgenössischen Naturwissenschaften verständlich machen lassen und zu keiner Zeit in das viel perhorreszierte Zerrbild eines 'anything goes' kippen, sondern vielmehr offen seien für eine Art "modest objectivity"39 oder gar "objective knowledge of the truth".40 Nietzsche bestreite mit seinem Perspektivismus bloß die Existenz interpretationsfreier Tatsachen oder eines 'view from nowhere', das Objekt der Kritik etwa im zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral sei ausschließlich die Vorstellung einer "interesselose[n] Anschauung" oder "Erkenntniss an sich".41 Damit bliebe Raum für eine modifizierte, Interessiertheit und Perspektivität zugestehende Vorstellung von Erkenntnis sowie eine zwar nie vollständige, aber doch näherungsweise erreichbare Form transperspektivischer Objektivität:
[J]e mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser "Begriff" dieser Sache, unsre "Objektivität" sein.42
Diese Formulierung wurde vielfach dahingehend interpretiert, dass wir durch die Kombination unterschiedlicher interessierter Perspektiven zwar niemals schlechthin objektive, wohl aber 'objektivere' Fakten etablieren können. Eine derartige Deutung fügt sich nicht nur gut zu Positionen zeitgenössischer Wissenschaftstheorie, sondern ist auch relativ problemlos anschlussfähig zu unterschiedlichen gegenwartsphilosophischen Ansätzen, die zwar einerseits traditionelle metaphysische Objektivitätskonzeptionen zurückweisen, sich aber andererseits auch gegen unterschiedliche Spielarten des 'Relativismus', 'Konstruktivismus' und 'Postmodernismus' abzugrenzen suchen: Die prinzipielle Endlichkeit und kontextuelle Gebundenheit unserer Erkenntnisse schließe mitnichten eine post-metaphysische Reformulierung von Wahrheits- oder Objektivitätsbegriffen etwa im Sinne eines modernen Naturalismus aus.
Ähnlich wie auf epistemologischer Ebene unterstrichen wird, dass Nietzsche schon deshalb nicht die Gleichgültigkeit aller Perspektiven unterstellen könne, weil er reges Interesse an den Erkenntnissen der zeitgenössischen Naturwissenschaften gezeigt habe, wird auf moralphilosophischer Ebene argumentiert, dass er zwar die Rückbindung normativer Diskurse an Interessens- und Machtzusammenhänge betone, deshalb aber keineswegs einer rücksichtslosen Durchsetzung von Machtinteressen das Wort rede, sondern vielmehr für moralische Werte wie Redlichkeit oder Wahrhaftigkeit eintrete.43 Auf vergleichbare Weise suchte zuletzt der renommierte amerikanische Nietzscheforscher Richard Schacht wenige Tage nach dem Erscheinen von Peter Wehners Kolumne Nietzsches Ansehen unter den Lesern der New York Times zu verteidigen.44
So sympathisch und plausibel vielen Interpreten ein derart moderater 'Nietzsche' auch erscheinen mag, so naheliegend ist für Anhänger der ersten Perspektive der Einwand, dass die Lesart der zweiten an entscheidenden Punkten der Sprengkraft von Nietzsches Philosophie nicht gerecht zu werden vermag. Beispielsweise könnte geltend gemacht werden, dass sich Nietzsche zwar in der Tat immer wieder wohlwollend über die Naturwissenschaften oder moralische Phänomene wie Redlichkeit äußert und somit tatsächlich weder in epistemischen noch in moralischen Fragen allen Perspektiven die gleiche Wertschätzung entgegenbringt, dass er aber gerade die Praxis des Wertschätzens als ein Paradebeispiel des Perspektivischen erachtet: Für Nietzsche, so ließe sich einwenden, scheint festzustehen, dass wir nicht umhinkommen, uns wenigstens temporär auf gewisse Perspektiven festzulegen und ihnen den Vorzug gegenüber anderen Perspektiven zu geben, aber gerade diese Praxis ist ihrerseits distinkt perspektivisch – Perspektiven sind nicht einfach alle gleich gut, aber ob eine besser ist als eine andere, ist jeweils aufs Neue eine Frage der Perspektive. Der Befund, dass Nietzsche gewisse Perspektiven bevorzugt und dies mitunter apodiktisch kundtut, schränkt deshalb die relativierende Wirkung der Denkfigur des Perspektivischen nicht eigentlich ein: Er mag beispielsweise, wie Schacht betont, bisweilen mit dem Ideal einer "'higher' humanity"45 kokettieren, doch warum einem solchen Ideal gegenüber anderen Idealen eine privilegierte Stellung zukommen sollte, lässt sich vor dem Hintergrund seiner perspektivisch-genealogischen Kritik moralischer Ideale als solcher kaum plausibilisieren. Auch damit ist zwar nicht die viel perhorreszierte 'Beliebigkeit' impliziert, wohl aber die prinzipielle Unverfügbarkeit eines festen, nicht seinerseits perspektivischen Grundes, von dem her sich das Spiel der Perspektiven stabilisieren und etwa das Ideal einer "'higher' humanity" als überlegen demonstrieren ließe.
Weiters könnte ein Anhänger der ersten Lesart einwenden, dass das Motiv einer näherungsweise steigenden Objektivität durch die Kombination von Perspektiven hinter Nietzsches grundlegende Kritik des repräsentationalistischen Modells von Erkenntnis als Adäquation sowie der Gegensätze von Subjekt und Objekt, 'wirklicher' und 'scheinbarer Welt'46 bzw. Erscheinung und Ding an sich zurückfällt:47 Argumentiert man mit Bezug auf den zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral, dass es für Nietzsche zwar keine interessensunabhängige Erkenntnis gebe, sich aber allemal durch die Kombination unterschiedlich interessierter Interpretations-Perspektiven ein gewisses Maß an Objektivität erzielen ließe, scheint dies auf eine bloß graduelle Abschwächung des traditionellen Adäquationsschemas hinauszulaufen, die dem Gedanken der gegenstandskonstitutiven Bedeutung von Perspektiven ("durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird"48) nicht eigentlich Rechnung zu tragen vermag. Wenn das Objekt demgemäß zwar in seinem An-sich-Sein entzogen, als solches aber nichtsdestoweniger vorausgesetzt bleibt, würde sich der 'Perspektivismus' nicht nur kaum von geläufigen Spielformen des Kritizismus unterscheiden, es bleibt zugleich unabsehbar, wie ein als solches nicht verfügbares Objekt eine derart einheitsstiftende Funktion erfüllen könnte.
Schließlich lässt sich auf exegetischer Ebene mit Blick auf Nietzsches Wortgebrauch einwenden, dass seine Verwendung des Ausdrucks "Interpretation" in Zur Genealogie der Moral wenig Raum für Deutungen des genannten Abschnitts zu lassen scheint, wonach wir einfach summativ durch die Kombination unterschiedlicher Blickwinkel einen höheren Grad an Objektivität erreichen: Wenn im vierundzwanzigsten Abschnitt das "Wesen der Interpretirens" definiert wird als "Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen",49 ist schwer nachvollziehbar, wie eine noch so ausgeklügelte Kombinatorik derart gewaltsam-verzerrender Interpretations-Perspektiven zu steigender Objektivität im traditionellen Sinne führen sollte.50 Gerade an diesem Punkt wird deutlich, warum ein derart domestizierter, moderat-vernünftiger und von jeglichen anrüchig-subversiven Tendenzen befreiter Nietzsche anders orientierten Interpreten als Produkt eines exegetisch problematischen "Sanitizing"51 erscheint.
4. Dritte Perspektive: Performanzen des Perspektivischen zur "Zucht" einer "einstmaligen 'Objektivität'"
Während die ersten beiden Lesarten den 'Perspektivismus' als eine mehr oder minder stark relativistisch geprägte epistemologische Position rekonstruieren, argumentiert die dritte Lesart, dass es Nietzsche in Texten wie dem zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral weniger um das Propagieren einer präzise umrissenen erkenntnistheoretischen Position geht als um das genealogische Projekt, solche Positionierungen auf die in ihnen wirksamen normativen Hintergründe hin zu interpretieren.52
Die dritte Lesart geht von einer methodologischen Voraussetzung aus, die sich im Rahmen der jüngeren textnahen Forschung vielfach als produktiv erwiesen hat, nämlich dass die in Nietzsches Schriften auftretenden Sprecherinstanzen nicht unmittelbar mit ihrem Autor identifiziert werden sollten.53 Wie gezeigt werden konnte, ist eine diesbezügliche Zurückhaltung nicht nur im Fall von Also sprach Zarathustra geboten, sondern kann auch im Umgang mit anderen Werken gewinnbringend sein, weil sie neue Einsichten in die Vielfalt und Heterogenität der Sprecherfiguren eröffnet, die Nietzsche mobilisiert. Wenn man nicht immer kurzerhand davon ausgeht, dass hier 'Nietzsche' spricht und uns im Rahmen eines philosophischen Frontalunterrichts seine Ansichten zu vermitteln sucht, sondern ein Sensorium für unterschiedliche Sprecherrollen und deren Typisierungen entwickelt, erschließt sich eine bisher ungeahnte Komplexität und Tiefenstruktur seiner philosophischen Kommunikationspraxis.
Mit Bezug auf den diskutierten Genealogie-Abschnitt ist von dieser Voraussetzung her darauf hinzuweisen, dass die berühmte These, dass es "nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches 'Erkennen'" gibt, von einer Sprecherfigur vorgetragen wird, die sich selbst mit den "Erkennende[n]" identifiziert.54 Diese Identifikation hat eine ganze Reihe weitreichender Konsequenzen für die Interpretation des Abschnittes aber auch von Zur Genealogie der Moral insgesamt, denn die typologische Figur der Erkennenden tritt bereits in der Vorrede und abschließend nochmals in den zentralen Abschnitten zur Selbstaufhebung des 'asketischen Ideals' auf, bildet also gleichsam eine Klammer für das gesamte genealogische Narrativ. Im hiesigen Kontext genügt es zu unterstreichen, dass die Identifikation des Sprechers als "Erkennende[r]" es nahelegt, die von ihm verbalisierte These über die Perspektivität des Erkennens ihrerseits als perspektivische Erkenntnis zu interpretieren.
Tatsächlich wirkt das neue, alternative Objektivitätsideal, das die Sprecherfigur in diesem Abschnitt formuliert, insofern perspektivisch, als die Forderung einer Vermehrung der "Affekt-Interpretationen" eine regelrechte Gegenperspektive zum Objektivitätsverständnis des asketischen Ideals darstellt:55 Das asketische Ideal begreift Objektivität als "interesselose Anschauung", bei der "die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen". Zur Karikatur dieser Vorstellung wird Schopenhauers "reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss" zitiert. Während das asketische Ideal also "[d]en Willen […] überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen" möchte, betont der Sprecher die konstitutive Bedeutung des Aktiv-Willentlichen und votiert für einen gezielten Einsatz respektive eine Vervielfältigung der "Affekt-Interpretationen" ("mehr Affekte, […] mehr Augen, verschiedne Augen").56
Diese Thesen des Sprechers entspringen ihrerseits keiner "interesselosen Anschauung", sondern sind selbst distinkt 'interessierte' Erkenntnisse, die im Rahmen des Angriffs auf das asketische Ideal zu eben diesem Zweck mobilisiert werden. Während die asketische Elimination der "Affekt-Interpretationen" und des "Willens" einem "leibhafte[n] Wille[n] zur Contradiction und Widernatur"57 entspringen soll, einem nihilistisch-lebensfeindlichen "Willen zum Nichts",58 kommt die vom Gegenstandpunkt des "eigentliche[n] Lebens-Instinkt[s]" erhobene Forderung einer Vervielfältigung der Affekt-Interpretationen der Konzeption des "Willens zur Macht" als einer Vielfalt aktiver, interpretierender Kräfte entgegen, wie sie im zwölften Abschnitt der zweiten Abhandlung eingeführt und als "Wesen des Lebens"59 reklamiert wird. Hinsichtlich dieser Verflechtung der Motive von Perspektivität und 'Wille zur Macht' muss betont werden, dass der 'Wille zur Macht' sowohl in Jenseits von Gut und Böse als auch in Zur Genealogie der Moral nicht als ein neutrales theoretisches Fundament der perspektivischen Kritik eingeführt wird, sondern wesentlich der Exemplifikation der These dient, "dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten":60 Der 'Wille zur Macht' ist kein Theorieangebot im traditionellen Sinne, sondern eine "Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens",61 die von einem entgegensetzten normativen Standpunkt, mit "entgegengesetzter Absicht und Interpretationskunst"62 vorgetragenen wird und vom Leser daraufhin dechiffriert werden soll.63 In der Genealogie wird das Motiv ausdrücklich gegen den "herrschenden Instink[t] und Zeitgeschmack" profiliert, gegen die "demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, de[n] moderne Misarchismus", wobei der nachträglich ins Druckmanuskript eingefügte Zusatz "(um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden)" den Leser gezielt zur Reflexion provoziert. Jener "Misarchismus" sei "in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften" eingedrungen und habe "ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen Aktivität, eskamotirt", er "stellt […] unter dem Druck jener Idiosynkrasie die 'Anpassung' in den Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität". Damit sei "das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht; damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben".64 Die Dichotomie von Aktivität und Reaktivität sollte dem Leser hier freilich bereits bekannt vorkommen, wurde sie doch zur Differenzierung zwischen der "Sklaven-Moral" und der "vornehmen Werthungsweise" der Herren-Moral (der Ausdruck fällt explizit nur in Jenseits von Gut und Böse, nicht in Zur Genealogie der Moral) herangezogen.65 Wenn der 'Wille zur Macht' als Konzept der Aktivität gegen das in den zeitgenössischen Wissenschaften dominante Paradigma der Reaktivität gesetzt wird, wird das Motiv somit als Grundbegriff einer herrenmoralisch motivierten Umwertungspraxis dechiffrierbar – und mit ihm die anti-asketische Konzeption von Erkenntnis und Objektivität (vulgo: 'Perspektivismus'). Der 'Wille zur Macht' bildet kein neutral-theoretisches Fundament des 'Perspektivismus', sondern trägt seinerseits zur Perspektivierung der perspektivischen Objektivitätskonzeption auf ihre normativen Interessen hin bei. Zur Genealogie der Moral ist in eben diesem Sinne "Streitschrift", in der "offen Moral gegen Moral gesetzt [wird]",66 nicht vermeintlich wertneutrale, quasi-wissenschaftliche Abhandlung.
Dies gilt es auch zu bedenken, wenn aus dem Motiv des 'Willens zur Macht' scheinbar unmittelbare normative Forderungen abgeleitet werden, wie etwa in der von Peter Wehner zitierten Passage aus Der Antichrist: Vor dem Hintergrund des Deutungsansatzes der dritten Lesart lassen sich solche Äußerungen als Elemente einer gegen-moralischen Umwertungspraxis interpretieren, im Rahmen derer polemisch 'Moral gegen Moral gesetzt' wird. Dies trägt nicht nur zur Perspektivierung der attackierten christlichen Moral, sondern zugleich zur Perspektivierung des offensiv verbalisierten, normativ entgegengesetzten Standpunktes bei und führt damit zur Perspektivierung moralischer Praxis als solcher.67
Dem Nietzsche der dritten Lesart geht es mit dem zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung der Genealogie also nicht darum, sich in mit einem neuartigen Theorieangebot namens 'Perspektivismus' in die ehrwürdige Ahnengalerie philosophischer Lehrmeinungen zum Thema Erkenntnis und Objektivität einzuschreiben, sondern um das später von Foucault aufgegriffene genealogische Projekt, erkenntnistheoretische Positionen und deren Konfrontationen auf ihre normativen Hintergründe hin zu interpretieren – eben dazu inszeniert er die Perspektive des 'Perspektivismus' als Gegenperspektive zur Objektivitätskonzeption des asketischen Ideals. Es geht, wenn man so will, letztlich mehr um die Perspektivität von Erkenntnistheorie als um eine Erkenntnistheorie des 'Perspektivismus'. Dabei handelt es sich um ein Philosophieren in und mit Perspektiven, das keinen unmittelbar konstativen, sondern wesentlich performativ-vorführenden Charakter hat und erst in diesem reflexiv-selbstbezüglichen Sinn als ein Philosophieren über Perspektiven und Perspektivität verstanden werden sollte. Tatsächlich wird der Begriff der Perspektive im genannten Abschnitt nicht etwa in Bezug auf die Sphäre raumzeitlicher Gegenstandserkenntnis eingeführt, die seit jeher die bevorzugte Domäne erkenntnistheoretischer Reflexionen bildet, sondern mit Bezug auf philosophische Perspektiven und Gegenstände wie etwa "Leiblichkeit", "Vielheit", "Subjekt", "Objekt" oder "Ich", die "der eigentliche Lebens-Instinkt" anders bewerten soll als der vom asketischen Ideal durchdrungene "leibhaft[e] Wille zur Contradiction und Widernatur".68 Wenn anschließend Dankbarkeit "gegen solche resolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Werthungen" eingefordert wird und sich der Sprecher an "meine Herrn Philosophen" wendet, sollte also deutlich werden, dass es hier primär um die Perspektivität und die normativ-wertende Dimension philosophischer Erkenntnis geht.69
Damit erschließt sich eine weitere Deutungsmöglichkeit für die Beschreibung von "'Objektivität'" als "das Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen: so dass man sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss."70 Während der Aspekt der Vervielfältigung der "Affekt-Interpretationen" zunächst eine Gegenperspektive zum Objektivitätsverständnis des asketischen Ideals darstellt, lässt sich diese Formulierung zugleich auch als eine Art poeseologische71 Reflexion auf das von Nietzsche praktizierte Verfahren des Kontrastierens von Perspektiven respektive das Textgeschehen der Genealogie interpretieren: Der zwölfte Abschnitt der dritten Abhandlung stellt selbst ein Beispiel des Aus- und Einhängens verschiedener, asketischer- bzw. anti-asketischer Perspektiven dar,72 um sie für die genealogische Erkenntnis nutzbar zu machen, nämlich in jenem Sinne, dass wir etwas über die Perspektiven und ihre Hintergründe lernen, in deren diskursivem Konflikt sich ein komplexer Begriff wie jener der Objektivität konturiert. Das Bild einer durch Perspektivenwechsel und -kontrastierung zu steigernden "Objektivität" muss somit nicht, wie die zweite Lesart vorschlägt, im Sinne einer näherungsweisen Adäquatheit gegenüber einer zugrundeliegenden objektiven Struktur durch die Neutralisierung subjektiver Elemente interpretiert werden: Dass "anders sehn, anders-sehn-wollen […] keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen 'Objektivität'"73 darstellen könnte, lässt sich auch dahingehend verstehen, dass das gezielte Wechseln und Kontrastieren von Perspektiven genealogische Aufschlüsse gibt über die Perspektivendifferenzen und das durch sie konstituierte Diskursfeld, in dem sich ein 'Objekt' wie etwa 'Erkenntnis' oder 'Objektivität' überhaupt erst abzeichnet. "'Objektivität'" wäre somit nicht mehr – die Anführungszeichen zeigen die Begriffsverschiebung an – als Adäquatheit gegenüber einem vorausgesetzten Gegenstand begriffen, sondern als weitestmögliche, sich ihrer eigenen Beschränktheit und Dialektik bewusste und daher immer notwendig bloß vorbereitende, "einstmalige" Aufklärung über jene interpretativen Praktiken, in denen sich uns philosophische Gegenstände alleine erschließen. Als "Zucht" hat sie ihrerseits eine distinkt normative Dimension, erfordert Disziplin und Einübung.
Doch was bedeutet das alles für die Frage nach der Postfaktizität? Lässt sich ein so gelesener Nietzsche, der uns keine einfach greifbaren philosophischen Positionen oder Theorien mehr anbietet, sondern diverse Positionierungen im Rahmen eines hochkomplexen Spiels von Perspektiven aufhebt, überhaupt noch für zeitgenössische philosophische Fragestellungen produktiv machen? Jedenfalls nicht so, dass wir uns an seine Theorie des 'Perspektivismus' halten könnten, um sie im Sinne der ersten Lesart als relativistische bzw. konstruktivistische Vorwegnahme der postfaktischen Situation zu interpretieren oder im Sinne der zweiten Lesart zu nutzen, um der vermeintlich drohenden 'postfaktischen Beliebigkeit' Einhalt zu gebieten, indem wir das Motiv der Perspektivität naturalistisch restringieren. Folgt man der dritten Lesart, könnte Nietzsche die Postfaktizitätsdebatte weniger durch mehr oder minder stark relativistische Theorieangebote befruchten, sondern eher durch die über die Perspektivierung des 'Perspektivismus' performativ vermittelte Idee, dass solche scheinbar abstrakt-theoretische Positionierungen stets in gewisse Interessenskonstellationen eingeschrieben sind. Nietzsche bringt mit dieser Vorführung den auch für Foucaults Projekt so zentralen Gedanken auf den Weg, dass solche Positionierungen aus gewissen historischen und geistesgeschichtlichen, sozialen und d.h. immer auch hierarchischen Kontexten heraus erwachsen, auf gewisse Lebenssituationen und -bedürfnisse, gewisse Sensibilitäten und Sorgen reagieren, dass sich solche Positionierungen gerade in ihren Konfrontationen oftmals gewisser Zerrbilder und Zurechtmachungen ihrer Opponenten bedienen, auf ein reiches Repertoire rhetorischer Strategeme zurückgreifen und, nicht zuletzt, dass damit stets schon ein gewisses Maß interpretativer Gewalt einhergeht, dass mit jeder bestimmten Konzeption von Wissen oder Objektivität gesellschaftliche Machtstrukturen gestärkt, verschoben, modifiziert oder unterlaufen werden.
Wenn sich etwa Teile der Scientific Community in einem "March for Science" gegen ihre drohende Marginalisierung wehren oder der Kampfbegriff des Postfaktischen seine prekäre Wörterbuchdefinition erhält, sind diese Formen des Engagements für 'Objektivität' in konkrete gesellschaftspolitische Interessenszusammenhänge und Machtgefälle eingelassen, scheinen um die Erhaltung eines gewissen hegemonialen Status zu ringen und dabei vielfach ein relativ unkritisches Bild wissenschaftlicher Objektivität vorauszusetzen. Der Kampf für Wahrheit und Objektivität ist immer auch ein Kampf darum, was als Wahrheit und Objektivität gelten soll. Silke van Dyk diagnostiziert diesbezüglich eine "pro-wissenschaftliche Pro-Wahrheits-Emphase": "In Zeiten der Lüge, so der Tenor, habe sich die aufgeklärte Kritik der Wahrheit und dem Realismus zu verschreiben." Damit drohe "eine mehr als 150-jährige heterogene erkenntnis- und machtkritische Forschungstradition" verschüttet zu werden, "die Verteidigung des liberalen Status quo trägt damit zur Delegitimierung zentraler Stränge kritischer Gesellschaftstheorie bei."74 Das bedeutet keineswegs, dass man die Wissenschaft und ihre Ergebnisse nicht verteidigen sollte, sondern nur, dass es dabei im Blick zu halten gilt, dass sich diese Verteidigung nicht von sozialen Macht- und Interessenskonstellationen ablösen lässt und es ihr möglicherweise abträglich sein könnte, wenn man die konkreten Entstehungsbedingungen wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und der durch sie konstituierten Faktizität unterschlägt. Dem Strudel der Postfaktizität dadurch Einhalt gebieten zu wollen, dass man in gut platonistischer Tradition wieder auf die einzige, hehre Wahrheit pocht, fiele nicht nur hinter die von van Dyk genannte, durch Denker wie Nietzsche und Foucault beförderte Forschungstradition zurück, sondern erscheint schlechterdings wenig erfolgsversprechend – Postfaktizität wird damit nicht konfrontiert, sondern ignoriert. Sie zu konfrontieren muss nicht bedeuten, sie für eine Art liberale Gegenpropaganda zu nutzen, wie dies Steve Fuller nahelegt,75 sondern bloß, die veränderten Rahmenbedingungen anzuerkennen, die sich für das Erheben von Objektivitätsansprüchen ergeben haben, und sie eingedenk ihrer normativen Dimension als Ansprüche zu stellen.
Der durch die Performanzen des Perspektivischen in Zur Genealogie der Moral vermittelte Gedanke, dass unsere Epistemologien, unsere Vorstellungen davon, was 'Objektivität' und 'Erkenntnis' bedeuten, ihrerseits perspektivisch sind, behauptet sich zwar nicht als ein einfacher Relativismus im Sinne der ersten Lesart, doch es ist allemal ein zutiefst relativistischer Gedanke. Von heutigen Spielformen meta-epistemologischer Relativismen unterscheidet er sich jedoch dahingehend, dass es für ihn keinerlei stabile Reflexionsebene mehr gibt, auf der er sich plausibel als theoretischer Ismus – etwa als 'Meta-Perspektivismus' oder 'Perspektivismus zweiter Ordnung' – behaupten könnte. Nietzsche belässt es bei der performativen Vorführung, weil er mit der Selbstbezüglichkeit dieses relativistischen Gedankens rechnet, die ad infinitum die Einführung stabiler Reflexionsebenen erodiert:76 Auch jeder etwaige 'Meta-Perspektivismus' müsste auf die ihn leitenden Interessen befragt und dahingehend seinerseits perspektiviert werden. Insofern sich der Gedanke dergestalt durch seine Reflexivität jeder definitiven Thetik entzieht, hat er zugleich zutiefst skeptischen Charakter. Nietzsche belässt es somit nicht einfach nur bei Performanzen des Perspektivischen, er überlässt es zugleich uns als Lesern, Rückfragen dieser Art zu stellen und das heißt zugleich: zu entscheiden, wie wir damit umgehen bzw. ob wir es mit der so verstandenen "Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen 'Objektivität'" versuchen wollen.
5. Fazit: Mit Nietzsche und Foucault zu einer Analyse der 'Politik der Erkenntnis(theorien)'
Foucaults Interesse an Nietzsche war nie streng exegetischer Natur. Nichtsdestoweniger weisen zentrale Aspekte seiner Rezeption erstaunliche Schnittmengen zur im Rahmen der dritten Lesart skizzierten Interpretation von Nietzsches Perspektivitätsdenken durch die jüngere textnahe Forschung auf: Beide betonen im Gegensatz zu den 'naturalistischen', am Neukantianismus orientierten Deutungen der zweiten Lesart, dass Nietzsches Erkenntniskritik einen radikalen Bruch mit dem traditionellen adäquationstheoretischen Modell vollzieht77 und perspektivische Interpretationen demgemäß nicht mehr auf vorausgesetzte Objekte bezogen sind, sondern sich ausschließlich in Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven konstituieren.78 Sowohl für Foucault als auch für die dritte Lesart ergeben sich daraus entscheidende selbstreflexive Konsequenzen: Der von den ersten beiden Lesarten als 'Nietzsches Erkenntnistheorie' gedeutete 'Perspektivismus' erscheint in Zur Genealogie der Moral seinerseits als spezifisch interessierte Perspektive – der Genealoge darf, wie Foucault betont, die Perspektivität seiner eigenen Interpretationen nicht verleugnen.79 Nietzsche liefere daher "keine allgemeine Theorie der Erkenntnis", wohl aber "ein Modell für eine historische Analyse der […] Politik der Wahrheit":80 Die in Zur Genealogie der Moral vorgeführte Konfrontation zweier konträrer, unterschiedlich motivierter Konzeptionen von 'Erkenntnis' und 'Objektivität' weist nicht nur in die Richtung einer Erforschung der 'Politik der Wahrheit' bzw. 'Politik der Erkenntnis' im Sinne einer genealogischen Analyse konkreter Wissensformationen, sondern bereitet zugleich eine Untersuchung der 'Politik der Erkenntnistheorien' vor. Eben diese kritische Kompetenz einer Genealogie unserer reflexiven Bestimmungen dessen, was 'Erkenntnis' und 'Objektivität' bedeutet, könnte im sogenannten postfaktischen Zeitalter mehr denn je gefragt sein: Nietzsche und Foucault geben uns entscheidende Schlüssel an die Hand, um die Motivationen, Bedingungsgeflechte und polemischen Verfestigungen freizulegen, die diverse Gegenreaktionen auf das Schreckgespenst der 'Postfaktizität' prägen. Wenn pauschal verkürzendes Postmoderne- und Relativismus-Bashing zunehmend sakrosankt wird und sich unterschiedliche Spielarten 'neuer Realismen' als einzig vernünftige erkenntnistheoretische Option proklamieren, bedarf es mehr denn je des radikal vernunftkritischen Korrektivs einer genealogischen Analyse nicht nur der 'Politik der Erkenntnis', sondern insbesondere auch der 'Politik der Erkenntnistheorien'.
Notes
- Bei den drei Perspektiven handelt es sich um Schematisierungen, die nicht zum Zweck einer Kategorisierung von realen Forschungspositionen entworfen werden, sondern zur Differenzierung wesentlicher Argumentationsmuster und deren Motivationen. Viele Forschungsbeiträge weisen daher Schnittmengen zu mehreren der drei Perspektiven auf. [^]
- Siehe zum Folgenden Jakob Dellinger und Enrico Müller, "Einführung: Perspektivierungen des 'Perspektivismus'", Nietzscheforschung 20 (2018) sowie ausführlich Jakob Dellinger, "Perspektive/perspektivisch/Perspektivismus", in Nietzsche-Wörterbuch Online, hg. v. Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens (Berlin, Boston: de Gruyter, 2017). [^]
- Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Kritische Studienausgabe Bd. 6 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999), 362. [^]
- Gesellschaft für deutsche Sprache, "GfdS wählt 'postfaktisch' zum Wort des Jahres 2016", zuletzt abgerufen am 8.4.2019, https://gfds.de/wort-des-jahres-2016/. [^]
- Siehe z.B. Claude Heiser, "Über den Sinn und Unsinn einer erfolgreichen Wortschöpfung", zuletzt geprüft am 18.03.2019, http://www.cgfp.lu/archive-details.html?ref=795. [^]
- Vgl. Alexander Fischer, "Ein Parasit im Kokon des Schmetterlings? Manipulation, Kommunikation und Ethik", in Fake news, hashtags & social bots: Neue Methoden populistischer Propaganda, hg. v. Klaus Sachs-Hombach und Bernd Zywietz (Wiesbaden: Springer), 16. Silke van Dyk kritisiert diesbezüglich eine "Nostalgie für das Vergangene, für ein Zeitalter der Fakten, da Politik noch nichts mit Emotionen und Stimmungen zu tun gehabt habe, als es noch nicht um Macht, sondern um Argumente gegangen sei" (Silke van Dyk, "Krise der Faktizität? Über Wahrheit und Lüge in der Politik und die Aufgabe der Kritik", PROKLA 47, Nr. 188 (2017), 349). [^]
- Vgl. van Dyk, "Krise der Faktizität", 354. [^]
- Das Oxford Dictionary definiert "post-truth" als "[r]elating to or denoting circumstances in which objective facts are less influential in shaping public opinion than appeals to emotion and personal belief." (https://en.oxforddictionaries.com/definition/post-truth, zuletzt abgerufen am 8.4.2019) Vgl. dazu auch folgende Formulierung: "Das Kunstwort postfaktisch verweist darauf, dass es heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen 'die da oben' bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der 'gefühlten Wahrheit' führt zum Erfolg." (Gesellschaft für deutsche Sprache, "Wort des Jahres 2016") [^]
- Vgl. z.B. Steve Fuller, Post-truth: Knowledge as a power game (London, New York: Anthem Press, 2018), 1–2; Alexander Fischer, "Ein Parasit im Kokon des Schmetterlings?", 16. [^]
- Siehe dazu auch van Dyk, "Krise der Faktizität", 349. [^]
- Vgl. Eduard Kaeser, "Das postfaktische Zeitalter", Neue Züricher Zeitung, 22.08.2016, zuletzt geprüft am 25.03.2019, https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/googeln-statt-wissen-das-postfaktische-zeitalter-ld.111900. [^]
- Vgl. Silvio Waisbord, "The elective affinity between post-truth communication and populist politics", Communication Research and Practice 4, Nr. 1 (2018). [^]
- Van Dyk verweist zurecht auf die "Temporalität der neuen Aufmerksamkeitsökonomie" (van Dyk, "Krise der Faktizität", 357) als eine der zentralen Veränderung der neuen Medienlandschaft. [^]
- Van Dyk, "Krise der Faktizität", 356. [^]
- Vgl. Heiser, "Über den Sinn und Unsinn einer erfolgreichen Wortschöpfung". [^]
- Eine nähere Erörterung der zeitdiagnostischen Plausibilität jener Aspekte würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen und muss daher unterbleiben. [^]
- Peter Wehner, "The Theology of Donald Trump", New York Times, 05.07.2016, https://www.nytimes.com/2016/07/05/opinion/campaign-stops/the-theology-of-donald-trump.html. [^]
- Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885–1887. Kritische Studienausgabe Bd. 12 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999), 315. [^]
- Vgl. z.B. Emmanuel Alloa, "Post-Truth or: Why Nietzsche is not Responsible for Donald Trump", zuletzt geprüft am 18.03.2019, http://thephilosophicalsalon.com/post-truth-or-why-nietzsche-is-not-responsible-for-donald-trump/; Martin Saar, "'Die Postmoderne ist nicht postfaktisch'", zuletzt geprüft am 18.03.2019, https://philomag.de/die-postmoderne-ist-nicht-postfaktisch/; Heiser, "Über den Sinn und Unsinn einer erfolgreichen Wortschöpfung"; Helmut Heit, "'there are no facts…": Nietzsche as Predecessor of Post-Truth?", Studia Philosophica Estonica 11 (2018); Kaeser, "Das postfaktische Zeitalter"; Zur Problematik solcher Bezugnahmen auf nachgelassene Materialien im Allgemeinen und das genannte Notat im speziellen siehe Jakob Dellinger, "Perspektvierungen des 'Perspektivismus' in Werk und Nachlass: Methodenfragen der textnahen Nietzscheforschung", in Nietzsches Nachlass, hg. v. Katharina Grätz, Sebastian Kaufmann und Andreas U. Sommer (Berlin, Boston: de Gruyter, in Vorbereitung). Jene Formulierung so zu zitieren, als ob es sich dabei um eine einfache These Nietzsches handelte, ist vor allem deshalb problematisch, weil es sich um eine ausdrücklich "[g]egen den Positivismus" mobilisierte Antithese handelt, die auf ähnliche Weise ihrerseits perspektiviert wird wie die zentralen Einführungen des Motivs im veröffentlichten Werk. [^]
- Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt (Berlin: Ullstein, 2013), 55–56. [^]
- Maurizio Ferraris, Introduction to new realism. Translated by Sarah De Sanctis (London, New York: Bloomsbury, 2015), 21–22. [^]
- Vgl. Damon Linker, "How Nietzsche explains the rise of Donald Trump", zuletzt geprüft am 18.03.2019, https://theweek.com/articles/570977/how-nietzsche-explains-rise-donald-trump. [^]
- Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Kritische Studienausgabe Bd. 6 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999), 170. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Kritische Studienausgabe Bd. 5 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999), 363–365. Eine methodisch angemessene Erschließung dieses äußerst komplexen, viel kommentierten Textes ist hier nicht möglich, siehe für diesbezügliche Ansätze Jakob Dellinger, "'all seine Konstruktionen sind aporetische Begriffe': Eine Adornosche Perspektive auf Nietzsches 'Perspektivismus'", in Text/Kritik: Nietzsche und Adorno, hg. v. Martin Endres, Axel Pichler und Claus Zittel (Berlin, Boston: de Gruyter, 2017). [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 365. [^]
- Das betont auch Michel Foucault, "Die Wahrheit und die juristischen Formen", übersetzt von Michael Bischoff, in Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits. Band II (1970–1975), hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Lagrange Jacques (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), 677. [^]
- Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885–1887, 315. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 364–365. [^]
- Siehe dazu neben der von Wehner zitierten Antichrist-Passage etwa auch die Einführung des Motivs des "Willens zur Macht" als Repräsentation eines "starken" im Gegensatz zu einem "schwachen" Willen in Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Kritische Studienausgabe Bd. 5 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999), 35–37 sowie dazu Jakob Dellinger, "Vorspiel, Subversion und Schleife: Nietzsches Inszenierung des 'Willens zur Macht' in 'Jenseits von Gut und Böse'", in Texturen des Denkens: Nietzsches Inszenierung der Philosophie in 'Jenseits von Gut und Böse', hg. v. Marcus A. Born und Axel Pichler (Berlin, Boston: de Gruyter, 2013). [^]
- Vgl. Werner Stegmaier, Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche (Berlin, Boston: de Gruyter, 2016, 5 und 48) sowie die kritische Würdigung in Jakob Dellinger, "Fluktuanz, Anti-Lehren, Orientierung: Werner Stegmaier", in "– ein Leser, wie ich ihn verdiene": Nietzsche-Lektüren in der deutschen Philosophie und Soziologie, hg. v. Eike Brock und Jutta Georg (Stuttgart: Metzler, 2019), i. Ersch. [^]
- Werner Stegmaier, "Nietzsches Perspektivierung der Moral: 'Ist aber ein außermoralisches Denken möglich?'", Theologie der Gegenwart 35, Nr. 2 (1992). [^]
- Siehe z.B. Alloa, "Post-Truth". [^]
- Vgl. Heit, "'there are no facts…", 202. [^]
- Für detailliertere Hinweise zu Parallelen und Differenzen zwischen dem Motivkomplex der Perspektivität bei Nietzsche und (Neo-)Kantianischen Denkmustern siehe Dellinger, "Perspektive/perspektivisch/Perspektivismus". [^]
- Heit, "'there are no facts…", 203. [^]
- Heit, "'there are no facts…", 202. [^]
- Heit, "'there are no facts…", 212. [^]
- Vgl. Jakob Dellinger, "'Sanitizing' Nietzsche? Bemerkungen zur Tendenz eines 'naturalistischen' Nietzsche-Bildes", in "Einige werden posthum geboren": Friedrich Nietzsches Wirkungen, hg. v. Renate Reschke und Marco Brusotti (Berlin, Boston: de Gruyter, 2012). [^]
- Brian Leiter, "Perspectivism in Nietzsche's 'Genealogy of Morals'", in Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's 'Genealogy of Morals', hg. v. Richard Schacht (Berkeley: Univ. of California Press, 1994), 349; vgl. auch Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy (Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1990). [^]
- Brian Leiter, Nietzsche on Morality (London: Routledge, 2002), 22. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 364–365. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 365. [^]
- Vgl. z.B. Kathleen Higgins, "Post-truth: a guide for the perplexed", Nature 540 (2016). [^]
- Vgl. Richard Schacht, "Donald Trump and Nietzsche", New York Times, 13.07.2016, https://www.nytimes.com/2016/07/13/opinion/donald-trump-and-nietzsche.html. [^]
- Schacht, "Donald Trump and Nietzsche". [^]
- Zur Verwendung dieser von Gustav Teichmüller inspirierten Terminologie im Kontext von Nietzsches Perspektivitätsdenken sowie zum Folgenden Absatz siehe Dellinger, "Perspektive/perspektivisch/Perspektivismus". [^]
- Dieser "Bruch zwischen der Erkenntnis und den Dingen", mit dem Nietzsche "die traditionellen Themen der abendländischen Philosophie radikale infrage [stellt]", ist auch für Foucault ein zentraler Aspekt: Es gebe "in der Erkenntnis keine Angleichung ans Objekt, keine Assimilationsbeziehung" und "[w]enn Nietzsche behauptet, Erkenntnis sei stets perspektivisch, will er damit nicht in einer Mischung aus Kant'scher Philosophie und Empirismus sagen, die Erkenntnis sei beim Menschen durch eine Reihe von Bedingungen begrenzt, die aus der menschlichen Natur, dem menschlichen Körper oder aus der Struktur der Erkenntnis selbst resultierten", sondern "dass es Erkenntnis stets nur in Gestalt diverser unterschiedlicher Handlungen gibt, in denen der Mensch sich gewaltsam Dinge aneignet, auf Situationen reagiert und sie in Kräfteverhältnisse zwingt" (Foucault, "Die Wahrheit und die juristischen Formen", 678–684). [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 365. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 400. [^]
- Foucault hat diese Konnotationen des Motivs der Interpretation bei Nietzsche mehrfach unterstrichen, vgl. z.B. Michel Foucault, "Nietzsche, Freud, Marx", in Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits, Band I (1954–1969), hg. v. Daniel Defert, François Ewald und Lagrange Jacques (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001), 734 sowie Michel Foucault, "Nietzsche, die Genealogie, die Historie", in Von der Subversion des Wissens, hg. v. Walter Seitter (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1987), 78. [^]
- Vgl. Dellinger, "Sanitizing". [^]
- Die dritte Lesart weist dahingehend die größten Affinitäten zu Foucaults Nietzsche-Rezeption sowie seiner genealogischen Kritik von Wissensformationen auf. Foucault betont in dieser Hinsicht ausdrücklich, dass "sich aus Nietzsches Schriften zwar keine allgemeine Theorie der Erkenntnis, wohl aber ein Modell rekonstruieren [lässt], das uns die Möglichkeit bietet, […] das Problem der Entstehung verschiedener Wissensbereiche aus bestimmten Kräfteverhältnissen und politischen Beziehungen innerhalb der Gesellschaft" (Foucault, "Die Wahrheit und die juristischen Formen", 685) zu konfrontieren. Nietzsches Perspektivitätsdenken wird dahingehend zum zentralen Stichwortgeber für die Einsicht, dass "die politischen und ökonomischen Lebensbedingungen in Wirklichkeit keinen Schleier und kein Hindernis für das Erkenntnissubjekt darstellen, sondern dasjenige Medium, durch das hindurch die Erkenntnissubjekte und damit auch die Wahrheitsbeziehungen sich herausbilden. Verschiedene Arten von Erkenntnissubjekten oder von Wahrheit und bestimmte Wissensgebiete kann es nur auf der Basis politischer Bedingungen geben, die den Boden darstellen, auf dem das Subjekt, die Wissensbereiche und die Wahrheitsbeziehungen sich herausbilden. Nur wenn wir uns von diesen großen Themen des – zugleich originären und absoluten – Erkenntnissubjekts befreien und stattdessen auf Nietzsches Modell zurückgreifen, finden wir möglicherweise den Zugang zu einer Geschichte der Wahrheit" (Foucault, "Die Wahrheit und die juristischen Formen", 686). [^]
- Vgl. Axel Pichler, Philosophie als Text: Zur Darstellungsform der 'Götzen-Dämmerung' (Berlin, Boston: de Gruyter, 2014), 138–139; sowie Andreas Urs Sommer, Was bleibt von Nietzsches Philosophie? (Berlin: Duncker & Humblot, 2018), 29–30. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 364–365. Siehe zum Folgenden ausführlich Dellinger, "'all seine Konstruktionen sind aporetische Begriffe'". [^]
- Vgl. Paul van Tongeren, "Science and Philosophy in Nietzsche's 'Genealogy of Morality'", in Nietzsches Wissenschaftsphilosophie: Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, hg. v. Helmut Heit, Günter Abel und Marco Brusotti (Berlin, Boston: de Gruyter, 2012), 84. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 364–365. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 363–364. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 412. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 316. [^]
- Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 19–20. Vgl. Jakob Dellinger, "Vorspiel, Subversion und Schleife". [^]
- Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Kritische Studienausgabe Bd. 1 (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999), 19. [^]
- Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 37. [^]
- Vgl. Jakob Dellinger, "Zwischen Selbstaufhebung und Gegenlehre: Nietzsche, Schopenhauer und die 'Perversität der Gesinnung'", in Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, hg. v. Dieter Birnbacher, Matthias Koßler und Andreas U. Sommer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013), 79–92. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 315–316. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 270–274. [^]
- Werner Stegmaier, Nietzsches 'Genealogie der Moral' (Darmstadt: Wiss. Buchges., 1994), 57. [^]
- Vgl. Stegmaier, "Nietzsches Perspektivierung der Moral". Auch an diesem Punkt entspricht die dritte Lesart der Deutung Foucaults, der deutlich gesehen hat, dass Nietzsches offensive moralische Positionierungen einen distinkt kritisch-subversiven Sinn haben: "Wer hat mehr als Nietzsche gesagt, was gut sei und was böse sei? […] Nicht in Ausdrücken von gut und böse denken wollen heißt, nicht in den derzeitigen Ausdrücken dieses Guten hier und dieses Bösen da denken zu wollen. Das ist es. Das heißt die Grenze zu verschieben, und zwar sie nicht einfach nur zu verschieben, um sie anderswo aufzurichten, sondern um sie unsicher zu machen, sie in Unruhe zu versetzen, sie zerbrechlich zu machen" (Michel Foucault, "Eine Durchleuchtung von Michel Foucault", übersetzt von Hans-Dieter Gondek, in Schriften in vier Bänden, Bd. 2, 979). [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 363–364. [^]
- Auch Clark hat zuletzt betont, dass sich der 'Perspektivismus' in diesem Abschnitt auf philosophische Fragen wie jene von Zur Genealogie der Moral bezieht (Maudemarie Clark, "Perspectivism and Falsification Revisited: Nietzsche, Nehamas, and Me", Journal of Nietzsche Studies 49, Nr. 1 (2018)). Ihr scheint es dabei allerdings primär darum zu gehen, den durch einen universalen Anspruch des 'Perspektivismus' drohenden Relativismus abzuwehren, der ihrem naturalistisch-szientistischen Nietzschebild zuwiderliefe. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 364–365. [^]
- Zur Verwendung von 'Poeseologie' bzw. 'poeseologisch' als Ausdrücke für den deskriptiven Nachvollzug textueller Verfahrensweisen vgl. Pichler, Philosophie als Text, 39–49. [^]
- Für detaillierte Nachweise der Perspektivenwechsel zwischen den Abschnitten 11, 12 und 13 sowie weitere Perspektivenwechsel im Rahmen der dritten Abhandlung siehe Dellinger, "all seine Konstruktionen sind aporetische Begriffe", 56–76. [^]
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 364. [^]
- Van Dyk, "Krise der Faktizität", 362. [^]
- Siehe dazu die Diskussion im Anschluss an den online abrufbaren Vortrag Steve Fuller: "The Post-Truth Condition: Why We've Always Been There and Why It's Unlikely to Go Away Soon" (Ohia State University, 10.04.2018), insbesondere Laufzeit 1:16:02 bis 1:17:52, https://youtu.be/odxXJgm-uos?t=4562 (zuletzt geprüft am 16.04.2019). [^]
- Vgl. Jakob Dellinger, "Situationen der Selbstbezüglichkeit: Studien zur Reflexivität kritischer Denk- und Schreibformen bei Friedrich Nietzsche" (Diss. Universität Wien, 2015), 393–431. [^]
- "Nach Nietzsche gibt es keine vorgängige Übereinstimmung oder Affinität zwischen der Erkenntnis und den zu erkennenden Dingen. […] Das ist der große Bruch mit der Tradition der abendländischen Philosophie" (Foucault, "Die Wahrheit und die juristischen Formen", 678). [^]
- "Die Interpretation ist deshalb niemals abgeschlossen, weil es gar nichts zu interpretieren gibt. Es gibt kein absolut Erstes, das zu interpretieren wäre, denn im Grunde ist alles immer schon Interpretation, jedes Zeichen ist an sich nicht die Sache, die sich der Interpretation darböte, sondern eine Interpretation anderer Zeichen. Danach gäbe es, wenn man so will, kein interpretandum, das nicht bereits interpretans wäre, so dass sich in der Interpretation sowohl ein Gewalt- als auch ein Erhellungsverhältnis herstellt. In der Tat erhellt die Interpretation keine interpretationsbedürftige Materie, die sich ihr passiv darböte, vielmehr vermag sie sich nur gewaltsam einer bereits vorhandenen Interpretation zu bemächtigen, die sie dann wendet und mit Hammerschlägen zertrümmert" (Foucault, "Nietzsche, Freud, Marx", 734). [^]
- Für die "wirklich[e] Historie" sei maßgeblich, "daß sie nicht fürchtet, ein perspektivisches Wissen zu sein. […] Der historische Sinn, wie ihn Nietzsche versteht, weiß, dass er perspektivisch ist, und lehnt das System seiner eigenen Ungerechtigkeit nicht ab. Er betrachtet unter einem bestimmten Blickwinkel; er ist entschlossen, abzuschätzen, ja oder nein zu sagen, allen Spuren des Giftes zu folgen, das beste Gegengift zu finden. […] Der historische Sinn gibt dem Wissen die Möglichkeit, in der eigenen Erkenntnisbewegung seine eigene Genealogie durchzuführen [meine Hervorhebungen, J.D.]. Die 'wirkliche Historie' führt die Genealogie der Historie durch, wenn sie an ihrem Standort das Lot in die Tiefe senkt" (Foucault, "Nietzsche, die Genealogie, die Historie", 82). [^]
- Foucault, "Die Wahrheit und die juristischen Formen", 683–685. [^]
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